Gerichtssaal als Tribüne - Der Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht vor 100 Jahren
Wenige Prozesse im deutschen Kaiserreich fanden so viel internationale Beachtung wie der Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht vor dem Leipziger Reichsgericht im Oktober 1907. Dieses Verfahren, über dessen Verlauf sich Kaiser Wilhelm II. telegraphisch Bericht erstatten ließ, ist zugleich ein glänzendes Beispiel für die politische Verteidigung eines Revolutionärs vor der bürgerlichen Justiz. Gegenstand der Anklage war Liebknechts im Februar 1907 erschienene Schrift »Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung«, in der er den inneren und äußeren Militarismus verschiedener Länder, insbesondere Preußen-Deutschlands, analysierte und sich für eine antimilitaristische Agitation der Sozialdemokratie unter der wehrpflichtigen Jugend aussprach. Auf Antrag des preußischen Kriegsministers Karl von Einem vom 17. April ließ Oberreichsanwalt Justus von Olshausen die Broschüre beschlagnahmen und leitete einen Prozeß wegen Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens ein.
Die zum Teil wörtlich dem Schreiben des Kriegsministers entnommene Anklageschrift warf Liebknecht vor, er habe die gewaltsame Änderung der Reichsverfassung durch Beseitigung des stehenden Heeres in Verbindung mit der Aktivierung der Truppen für die Revolution vorbereitet, indem er in seiner Broschüre zur umfassenden antimilitaristischen Propaganda aufrief.
Für Frieden
»Wegen des Hochverrats geht man mir ernstlich zu Leibe«, schrieb Liebknecht am 20. Mai 1907. »Die Anklage ist ganz schlau – allerdings beruht sie zum Teil auf plumpen Mißverständnissen. Natürlich kann ich kein Versteckspielen treiben – und daß das nicht zu leugnende Material bei üblicher staatsanwaltlicher Deutung für meine ›Verdammnis‹ ausreicht, weiß jedes Kind der Kriminaljurisprudenz« (Der Hochverratsprozeß gegen Karl Liebknecht 1907 vor dem Reichsgericht, Berlin 1957, S. 15). Mit »Mißverständnis« meinte Liebknecht von der Anklage aus dem Zusammenhang gerissene und in ihr Gegenteil verkehrte Zitate. Absurd war insbesondere der Vorwurf, er wolle einen Krieg zwischen Frankreich und Deutschland provozieren, da der Kriegsausbruch der günstigste Moment für die Entfaltung der proletarischen Macht sei. Geschrieben hatte Liebknecht vielmehr, dies sei die ungünstigste Situation. Und den von französischen Sozialisten propagierten Militärstreik hatte Liebknecht als »phantastisch« abgelehnt.
Zu Prozeßbeginn am 9. Oktober 1907 war ein starkes Polizeiaufgebote vor dem Leipziger Reichsgericht in Stellung gegangen. Seit mehreren Tagen waren die Karten für den Zuschauerraum vergriffen. Offiziere und Reichsgerichtsräte beobachteten das Verfahren aus Logen an den Schmalseiten des Saales, während mehrere Abgeordnete aus Deutschland und Österreich im Zuschauerraum Platz nahmen. Verteidigt wurde Liebknecht von den Anwälten Hezel, Hugo Haase und Kurt Rosenberg.
Liebknecht bezeichnete den Prozeß als »erste große Kavallerieattacke« in einem »systematischen Feldzug gegen den Antimilitarismus und die Jugendbewegung« (Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2, S. 158). Insbesondere wies er den Vorwurf der Anstachelung zur Gewalt zurück. »Mein Zweck ist, an Stelle der Kriegsbegeisterung eine höchst intensive Friedensbegeisterung zu setzen. Das ist der Kern und die Konsequenz meiner Schrift« (ebd., S. 159). Zwar deckte Liebknecht die Verfälschung seiner Äußerungen durch den Oberreichsanwalt auf. Doch im Vordergrund stand für ihn nicht die Rettung seiner Haut, sondern die Ausnutzung des Gerichtssaals als Tribüne gegen Militarismus und Kriegsgefahr. So bestand er auf wörtliche Verlesung seiner Broschüre vor Gericht, damit der Text ins Protokoll kam und als gerichtliches »Beweismittel« auch außerhalb des Gerichtssaals zur Agitation genutzt werden konnte.
Heiterkeit löste der als einziger Zeuge der Verteidigung geladene SPD-Vorsitzende August Bebel mit seiner Äußerung aus, bei hochverräterischen Unternehmen »sachverständig« zu sein (ebd., S. 141). Schließlich war Bebel 1872 zusammen mit Liebknechts Vater Wilhelm wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« vom Leipziger Schwurgericht zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt worden. Er hätte sich zwar gegen die von Liebknecht geforderte spezielle antimilitaristische Agitation ausgesprochen, da weniger juristisch geschulte Parteimitglieder dabei mit dem Gesetz in Konflikt geraten könnten. Doch sei ihm niemals der Gedanke gekommen, daß Liebknecht Vorbereitung zu Hochverrat betreiben wolle, so Bebel.
In seinem Schlußplädoyer wies Liebknecht den vom Oberreichsanwalt erhobenen Vorwurf »ehrloser Gesinnung« zurück. »Meine Ehre ist mein, (...) und wenn Sie mich ins Zuchthaus schicken und mir die Ehrenrechte absprechen: Ich werde innerlich nicht berührt. (...) Aber dem Oberreichsanwalt ganz besonders möchte ich nach dem, was hier zutage getreten ist, jede Legitimation absprechen, von meiner Ehre auch nur zu reden!« (ebd., S. 161 f.) Für den Antimilitarismus sei während des Prozesses glänzende Propaganda gemacht worden, bilanzierte Liebknecht. »Und es hat sich hier von neuem gezeigt, was im politischen Prozeß die Regel ist: Der Pfeil kehrt sich gegen den Schützen und trifft den Schützen! Ich fühle mich hier nicht als Angeklagter, wenn ich auch verurteilt werde« (ebd., S. 162).
Broschüre wird makuliert
Senatspräsident Ludwig Treplin verkündete am 12. Oktober nach halbstündiger Beratung das Urteil. »Der Angeklagte ist schuldig der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens und wird mit Festungshaft in der Dauer von einem Jahre sechs Monaten bestraft« (ebd., S. 163). Von der vom Oberreichsanwalt beantragten härteren Zuchthausstrafe von zwei Jahren hatte das Gericht abgesehen, da keine »ehrlose Gesinnung« als Motiv vorliege, vielmehr habe der Angeklagte aus einer »politischen Überzeugung« gehandelt (Hochverratsprozeß, S. 164). Die Broschüre und die Druckplatten seien einzuziehen und unbrauchbar zu machen. Wie aus den Prozeßakten hervorgeht, waren bis November 1907 gerade einmal 68 Exemplare von »Militarismus und Antimilitarismus« beschlagnahmt worden. Gleichzeitig war eine Zweitauflage in der Schweiz in Vorbereitung.
Vor dem Reichsgericht empfingen Tausende Arbeiter den »Hochverräter«. »Zahlreiche Zurufe bekundeten die Überzeugung, daß trotz der Verurteilung der eigentlich Geächtete nicht Liebknecht sei und daß unser Genosse Liebknecht mannhaft und erfolgreich für die Sache der Befreiung der Arbeiterklasse und für seine Überzeugung gefochten habe« (ebd.), hieß es im SPD-Organ Vorwärts.
Der sozialdemokratische Parteivorstand beschloß, das Prozeßprotokoll in einer billigen Massenbroschüre zu vertreiben, und Bebel würdigte Liebknechts Kampf vor Gericht mit den Worten: »Liebknechts Ansehen ist nicht nur in den Augen seiner Freunde, sondern auch seiner Gegner ganz gewaltig gewachsen durch die tapfere und geschickte Art, wie er seinen Richtern und vor allem dem Reichsanwalt gedient hat. Das ist dem grauköpfigen Reichsanwalt in seinem Leben noch nicht passiert, daß ihn ein Angeklagter so heimgeschickt hat wie unser Freund und Genosse Karl Liebknecht« (Vorwärts vom 18. Oktober 1907).
Sein Wille zum Widerstand gegen Militarismus und Imperialismus sei ungebrochen, versprach Liebknecht am 20. Oktober auf einer Massenkundgebung in der Berliner Hasenheide. Vier Tage später trat er seine Haft in der Bergfeste Glatz in Schlesien an.
Quellentext. Karl Liebknechts Schlußplädoyer am 11. Oktober 1907 vorm Reichsgericht
Der wirkliche Grund der Anklage ist klar. Dieser Grund ist nicht juristisch, sondern politisch, und darum ist es so schwer, diese Anklage juristisch anzufassen. Sie ist kurzweg ein Akt der Staatsräson, nicht ein Akt der Justiz. In einer Schrift, die den Zweck verfolgt, Frieden zu säen anstatt Krieg, die eine Friedhaftmachung der Weltpolitik anstrebt, die sich wendet gegen den waffenstarrenden Militarismus, gegen dasjenige Instrument der Gesellschaft, dessen Zweck und Wesen die Gewalt ist; in einer solchen Schrift soll – indem man den Spieß umdreht – die Vorbereitung zu Gewalttätigkeiten gefunden werden! O nein! Die Gewalt wird verteidigt durch diese Anklage gegen die Versuche zur Beseitigung der Gewalt. So steht´s in Wirklichkeit. Ich will den Frieden, der Oberreichsanwalt aber die Gewalt. Ich verfolge den Zweck, die Entscheidung über Krieg und Frieden aus dem Dunkel der Kabinette und Diplomatenschleichwege herauszuholen und an das Licht der Öffentlichkeit zu ziehen. Das fassen die Herren ganz besonders unwillig auf. Ich will, daß die Entscheidung über Krieg und Frieden dem Willen des ganzen Volkes unterstellt werde.
aus: Karl Liebknecht: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2, S. 160 f.