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17.12.2024 | 20:00
09.12.2024 | 19:30
Veranstaltung mit Silke Makowski (Hans-Litten-Archiv)
29.11.2024 | 18:00
Veranstaltung mit Silke Makowski (Hans-Litten-Archiv)
Im Jahr 2024 jährt sich die Gründung der Roten Hilfe Deutschlands zum 100. Mal: Die Solidaritätsorganisation wurde am 1. Oktober 1924 gegründet.
Das Jubiläum ist auch für uns als Hans-Litten-Archiv Anlass für viele Veranstaltungen und Veröffentlichungen, mit denen wir die verschiedenen Phasen der Solidaritätsarbeit und die unterschiedlichen Organisationen beleuchten wollen. Dazu gehören eine Reihe Vorträge zur Geschichte der Roten Hilfe(n), die in der Veranstaltungsübersicht angekündigt werden. Wir freuen uns über weitere Vortragsanfragen.
Als Begleitmaterial zur Ausstellung „100 Jahre Rote Hilfe“, die die Rote Hilfe e. V. erstellt hat, haben wir einen Katalog mit herausgegeben, der ab Februar 2024 im Literaturvertrieb der Roten Hilfe e. V. bestellt werden kann. Interessierte können einen Blick ins Inhaltsverzeichnis werfen.
Auch zum Film „Solidarität verbindet – 100 Jahre Rote Hilfe“ konnten wir mit Interviews und Archivmaterialien beitragen.
Mehrere zeitweise vergriffene Broschüren aus den Schriftenreihen des Hans-Litten-Archivs wurden nachgedruckt. Im Frühsommer 2024 erscheint der neue Band „Von der Sammelbüchse der Partei zur strömungsübergreifenden Solidaritätsorganisation: Die Rote Hilfe Deutschlands 1975-1986“. Alle Publikationen des Hans-Litten-Archivs sind jetzt in einem Kurzverzeichnis zu finden. Die Liste der Artikel, die in der Rubrik „Aus roter Vorzeit“ in der Rote Hilfe Zeitung erschienen sind, werden regelmäßig aktualisiert. Für alle, die sich eingehender mit der Geschichte der Roten Hilfe(n) beschäftigen wollen, gibt es außerdem eine Literaturliste mit einigen wichtigen Titeln.
Auf unserer Website, auf der unter „Archiv“ viele Publikationen der Weimarer Republik und der 1970er-Jahre eingesehen werden können, wollen wir regelmäßig ein „Fundstück des Monats“ näher vorstellen.
Vor rund hundert Jahren wurde die Rote Hilfe Österreichs als Hilfsorganisation für politisch Verfolgte aus der Arbeiterbewegung und deren Familien gegründet. Trotz ihrer Anbindung und die KPÖ und ihre Leitung durch die Kommunistin Malke Schorr hatte die Rote Hilfe einen überparteilichen Anspruch. So gehörten ihr nicht nur zahlreiche Parteilose und Sozialdemokrat*innen an, sie setzte sich auch für verhaftete Schutzbündler ein. Arbeiter*innen, die aufgrund ihrer politischen Aktivitäten angeklagt wurden, stellte die Rote Hilfe Anwälte. Den Familien politischer Gefangener half sie mit Geld und Lebensmittelspenden beim Lebensunterhalt. Ein besonderer Schwerpunkt der österreichischen Roten Hilfe lag in den 1920er Jahren in der Unterstützung von linken politischen Flüchtlingen aus autoritär oder faschistisch regierten Nachbarländern wie Italien oder Ungarn. Im Rahmen der Internationalen Roten Hilfe mit weltweiten Sektionen beteiligte sich die österreichische Rote Hilfe auch an Kampagnen gegen Verfolgung in anderen Ländern, so auch gegen die drohende Hinrichtung afroamerikanischer Jugendlicher in den Südstaaten der USA. Unter dem Austrofaschismus und dem Nazifaschismus leistete die Rote Hilfe aktiven Widerstand, so auch in Hallein, wo u. a. Agnes Primocic die Familien politisch Verfolgter unterstützte. Der Vortag soll einen Überblick über Geschichte und Aktivitäten der Roten Hilfe Österreichs geben.
20.02.2024 von 18:30 bis 20:00
Ort: Keltenmuseum Hallein, Pflegerpl. 5 (Salzburg)
https://www.erinnern.at/bundeslaender/salzburg/termine/vortrag-die-rote-hilfe-in-oesterreich
Anlässlich des 120. Geburtstags von Hans Litten erschienen einige lesenswerte Artikel zum Leben und Wirken des engagierten RHD-Anwalts, u.a. im Magazin Jacobin und bei der Roten Hilfe OG Hannover:
https://jacobin.de/artikel/der-anwalt-des-proletariats-hans-litten-rechtsanwalt-rote-hilfe-babylon-berlin-adolf-hitler-gustav-noske-weimarer-republik-andre-paschke/
https://hannover.rote-hilfe.de/vor-120-jahren-wurde-hans-litten-geboren-ein-kurzes-leben-34-jahre-7-monate-und-16-tage-ein-kurzes-anwaltsleben-4-jahre-und-5-monate-und-1-tag/
Vor 120 Jahren wurde Hans Litten geboren. Ein kurzes Leben, 34 Jahre, 7 Monate und 16 Tage. Ein kurzes Anwaltsleben, 4 Jahre und 5 Monate und 1 Tag
„Auf dem Höhepunkt seiner Moabiter Tätigkeit habe ich Litten einmal zugeredet, er möge weniger intransigent sein, es manch mal billiger geben und nicht immer alles auf die Spitze treiben; wir würden ihn sonst nicht lange in Moabit behalten und könnten ihn doch gut brauchen. Er hat erwidert, er sei überzeugt, es werde ohnehin nicht lange mehr mit unserem Rechtswesen dauern, schon deshalb sehe er keinen Grund zu Konzessionen. Ich muss gestehen, er sah die kommenden Dinge genauer als ich.“
„Der Rechtsanwalt Litten trat in den politischen Prozessen entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten, das heißt der Verwundeten oder der Witwen und Waisen von Getöteten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank saßen. Das letztere war eine besonders wichtige Aufgabe, aus einem Grunde, der wieder mit der politischen Situation zusammenhing. Wie ich schon gesagt habe, begannen auch die beamteten Juristen in Moabit dem Druck von rechts zu weichen. Woran man ja sonst überall im Reich während der ganzen republikanischen Zeit gewöhnt war, das trat auch hier ein: man konnte sich nicht mehr darauf verlassen, daß das Recht ohne Rücksicht auf die Partei angewendet wurde. Waren Linke angeklagt, so war Verfolgung unnachsichtlich; sollten sich aber Nationalsozialisten verantworten, so schien die Untersuchung nicht immer lückenlos, manchmal war es, als ob die Staatsanwaltschaft mehr im Interesse der Täter handle als der von der Tat Getroffenen, als ob sie mit der Verteidigung im Bunde sei. Unerklärlich war das schließlich nicht; die Beamten dachten an ihre Zukunft, und die Zukunft gehörten offenbar irgendeiner Art der nationalistischen Reaktion, vielleicht sogar den Nazi selbst.
Litten hatte Erfolg. Der heilige Eifer, den er der Sache widmete, der unermüdliche Ernst, mit dem er sich seiner Aufgabe unterzog, die Ausschließlichkeit, mit der er Zeit und Arbeitskraft opferte – so außerordentliche Anstrengungen machten sich bezahlt. Nicht allerdings im materiellen Sinn; meist verdiente er kaum genug, um sein Büro laufend zu erhalten. Aber juristisch für die Wahrheitsfindung lohnte der Eifer sich. Einmal wurde eine Gruppe von Kommunisten freigesprochen, weil es gelang, nachzuweisen, daß sie überfallen worden waren und in gerechter Verteidigung gehandelt hatten. Ein anderes Mal wurden Nationalsozialisten, ein sogenannter „SA-Sturm“, verurteilt, die einen politischen Gegner getötet hatten.“
Auszüge aus: Rudolf Olden, Vorwort für das Buch von Irmgard Litten „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“
Max Fürst, ein Freund aus Jugendzeiten, schreibt über Hans Littens Vorgehen bei den Prozessen folgendes:
„Oft ging er dabei bis an die Grenzen dessen, was Konvention und Standesbewußtein einem Anwalt zubilligten, und mancher Richter versuchte durch Anrufung des Standesgerichtes der Anwaltskammer sich des unliebsamen Anwalt des Rechts zu entledigen. Hans war jedoch nach allen Seiten auf der Hut und so scheiterten die verschiedenen gegen ihn eingeleiteten Verfahren. Seine gründliche Gesetzeskenntnis rette ihn jedesmal, wenn man glaubte, ihn bei seiner temperamentvollen Engagiertheit fassen zu können. […] Er setzte sich ohne Vorbehalte für seine Mandanten ein; die standesgemäße Zurückhaltung, die auch viele der großen liberalen und sozialistischen Anwälte auszeichnete, kümmerte ihn nicht.“
Aus: Max Fürst, „Talisman Scheherezade“, S: 330
Ein paar Schlaglichter aus seinem Leben:
Hans Litten wurde am 19. Juni 1903 in Halle an der Saale in eine großbürgerliche Familie geboren.
Durch die Stellung des Vaters als Dekan der juristischen Fakultät und Rektor der Universität, Geheimer Justizrat und Berater der preußischen Regierung konnte dieser immerhin verhindern, dass Hans vom Gymnasium flog. Auf die Frage, ob man ein Bild von Hindenburg in der Schule aufhängen solle, hatte er geantwortet, er sei schon immer dafür gewesen, ihn aufzuhängen. Wichtiger als der erzkonservative Vater war für die weitere Entwicklung von Hans aber wohl die Mutter, in deren Familie eine eher humanistische Grundhaltung galt.
In seiner Jugend in Königsberg wandte sich Litten zusammen mit seinem Jugendfreund Max Fürst einer deutsch-jüdischen Jugendgruppe mit sozialrevolutionären Ideen zu, genannt der „Schwarze Haufen“ die sich erst 1928 auflöste.
Im selben Jahr ließ Hans sich nach Abschluss des Jura Studiums mit dem zehn Jahre älteren, der KPD nahestehenden und für die Rote Hilfe tätigen Rechtsanwalt Ludwig Barbasch in einer gemeinsamen Anwaltskanzlei in Berlin nieder.
…“ Die Justizrealität der 20er Jahre bot anschaulicheres Material über das Verhältnis von Justiz, Legalität und Demokratie als die Seminare an der Universität: der Kapp-Putsch vom März 1920, deren Führer ohne Ausnahme strafrechtlich unbehelligt blieben; die ungesühnten Morde der Konterrevolutionäre an über 300 Arbeitern, während die Anhänger der bayerischen Räterepublik zu insgesamt 973 Jahren Festungshaft, 368 Jahren Zuchthaus und 3502 Jahren Gefängnis verurteilt wurden; der Hitler-Putsch vom 9. November 1923, der Hitler lediglich vier Jahre Festungshaft einbrachte und dem Ende November das KPD-Verbot und der Terror der Reichswehr folgte; das Ermächtigungsgesetz vom 8. Dezember 1923, welches mit dem Ausnahmezustand die Grundrechte beschnitt; die Aufhebung des Acht-Stunden-Tages etc.
Als sich Hans Litten … niederließ, hatte er diese Lektionen der Weimarer Klassenjustiz ebenso gründlich gelernt wie die Strafprozessordnung, die seine wirksamste Waffe war. …“ (Portrait: Hans Litten Von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten)
siehe dazu auch: Gumbel, Emil J.: Vier Jahre politischer Mord (Berlin-Fichtenau 1922). 11.5.2011, online unter https://www.gutenberg.org/cache/epub/39667/pg39667.txt
Schon in seinem ersten Prozess zeigte er sein Können, seinen Mut und sein Engagement: der pazifistische Anarchist Ernst Friedrich war wegen Beleidigung angeklagt worden – er hatte Gustav Noske in seiner Zeitschrift „Die Schwarze Fahne“ einen »Lump« und »Schurken« genannt hat. Litten versuchte eine größtmögliche Öffentlichkeit zu schaffen und ging offensiv mit Anträgen zur Ladung von Zeugen und Sachverständige vor, um zu zeigen, dass die Bezeichnungen durchaus zutreffend gewesen wären. Nachdem Ernst Friedrich verurteilt worden war organisierte Hans eine Demonstration, auf der eben diese Sachverständigen sprachen und die reaktionäre Justiz angriffen. Sein Plädoyer, das sich ausführlich mit Noskes Rolle bei der Niederschlagung der Novemberrevolution befasste, veröffentlicht er.
Dieser Stil zog sich durch seine gesamte Tätigkeit als Anwalt: Hans Litten war immer außerordentlich gut vorbereitet, er verstand sein Handwerk und er war äußerst kämpferisch und hartnäckig. Darüber hinaus versuchte er selbst Sachverhalte zu ermitteln, wie später in den großen Prozessen gegen faschistische Schlägerbanden. Und vor allem: er war parteilich!
Wie sein Kollege Ludwig Barbasch arbeitete Hans von da an mit der Roten Hilfe für die Verteidigung von Proletariern und Proletarierinnen, die vor der Klassenjustiz standen. „Er wirkte dort neben so bekannten Anwälten wie Ludwig Bendix, Georg Cohn, Oskar Cohn-Bendit, Josef Herzfeld, Heinz Kahn und Fritz Löwenthal. Eine besonders enge Zusammenarbeit verband ihn mit Eva Eichelbaum und Hilde Benjamin, der späteren Justizministerin in der DDR. Seine Tätigkeit für die Rote Hilfe gestaltete sich aber keineswegs weltanschaulich harmonisch, weil er von dieser Organisation als Mensch mit anarchistischen Tendenzen eingeschätzt wurde. … Diese weltanschaulichen Gegensätze führten aber zu keinem Zeitpunkt zu einem Zerwürfnis zwischen ihm und der Organisation. Die Zusammenarbeit blieb ungetrübt bis zu seiner Verhaftung, auch als die Rote Hilfe mangels entsprechender Mittel die Vergütungssätze drastisch senken mußte. (Heinz Düx
Er verteidigte Teilnehmer der vom Polizeipräsidenten verbotenen Kundgebung am 1. Mai 1929 in Berlin, bei deren „Auflösung“ mehr als 30 Demonstrierende getötet, Hunderte verletzt und etwa 1200 verhaftet worden waren. Hans Litten als Demonstrationsteilnehmer hatte am U-Bahneingang Münchstraße beobachtet, wie Polizisten einen Mann niederschlugen und traten. Er drängte sich durch die Polizisten mit der Erklärung, er wolle als Anwalt ein Protokoll aufnehmen. Daraufhin wurde er selbst mißhandelt, ließ sich jedoch nicht davon abhalten, den Namen des Mißhandelten und einiger Zeugen festzustellen. Viele wurden angeklagt wegen schweren Landfriedensbruchs und Aufruhr. Wieder setzte Hans auf öffentliche Aufmerksamkeit: Der »Ausschuss zur Untersuchung der Berliner Mai-Vorgänge« wurde gebildet, an dem sich neben ihm auch Alfred Döblin, Heinrich Mann, Egon Erwin Kisch und Carl von Ossietzky beteiligten. Und er drehte den Spieß um: In weiteren Prozessen beschuldigte er den Polizeipräsidenten öffentlich des Mordes, um ihn zu einer Beleidigungsklage zu zwingen. Zörgiebel tat ihm den Gefallen nicht, dennoch bekam Hans die gewünschte große Aufmerksamkeit.
In beiden genannten Fällen genügte es Hans also nicht, einfache Strafverteidigung zu betreiben, er versuchte, bis in höchste politische Ebenen hinein die Verantwortlichen dingfest zu machen. „… Dazu benutzte er nicht nur die immer stumpfer werdenden Waffen der Prozessordnung, sondern gleichzeitig die öffentlichen Veranstaltungen der Roten Hilfe, die er durch ausgiebige Vernehmungen von Zeugen zu öffentlichen Tribunalen der Wahrheitsfindung ausbaute.“ … (Portrait: Hans Litten Von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten)
Berühmt geworden ist vor allem der Prozess zum Überfall auf das Tanzlokal Eden in Berlin-Charlottenburg. Am 22.November 1930 hatte ein SA-Rollkommando das überwiegend von linken Arbeitern und Arbeiterinnen besuchte Lokal überfallen. Die Aktion war planmäßig vorbereitet, die polizeilichen Ermittlungen im Anschluss an die Tat verliefen vollkommen unzureichend. In einer großen öffentlichen Veranstaltung vernahm Hans Zeugen zu dem Überfall und vertritt die Nebenklage von verletzten Arbeitern.
In dem Prozess ging es ihm neben der strafrechtlichen Verfolgung der unmittelbaren Täter darum, aufzuzeigen, dass die solche Überfälle Teil einer Strategie der NSDAP wären um die Republik zu destabilisieren. Damit konnte er die von Hitler kurze Zeit vorher vor dem Leipziger Reichsgericht beschworene Legalität der “Nationalen Revolution” demontieren. Tatsächlich lässt er Hitler vorladen und befragen und versuchte damit die Unglaubwürdigkeit der Legalitätsversicherungen der Faschisten nachzuweisen – im Laufe der Vernehmungen konfrontierte Hans den Zeugen Hitler mit der Schrift „Der Nazi-Sozi“ des Reichspropagandaleiters der NSDAP Goebbels, in der er forderte, das Parlament auseinander zu jagen, die Macht zu ergreifen und die „Gegner zu Brei zu stampfen“. Litten scheiterte zwar mit seinem Vorhaben, das Gericht durch die Befragung des Zeugen Hitler davon zu überzeugen, dass die oft tödlichen Angriffe durch Rollkommandos der SA eine bewusste Strategie der NSDAP waren. Die Angehörigen des SA-Sturms 33, die den Eden-Palast angegriffen hatten, wurden aber zu hohen Haftstrafen verurteilt. In der mehrstündigen Vernehmung entlarvte Litten Hitlers Schutzbehauptungen und Notlügen. Hitler sah sich genötigt sich von Goebbels zu distanzieren- so stehe SA für Sportabteilung – als ihn Litten immer wieder in Widersprüche und Ausflüchte trieb, und musste seine Verfassungstreue beschwören. Hitler war durch Littens Befragung völlig in die Enge getrieben und aus der Fassung geraten. Diese Blamage hat er Hans nie verziehen. Bei der Erwähnung seines Namens bekam er einen roten Kopf, so zum Beispiel Robert Freisler.
„… Litten hatte ihm aber doch gehörig zugesetzt. Es ging nicht so leicht ab wie in Leipzig, wo ihm die Reichsrichter einfach die Stichworte zu einer Propagandarede geliefert hatten. Litten hatte nicht wenige Zitate aus der nationalsozialistischen Literatur zur Hand, – „die Gegner zu Brei zerstampfen“, „von der Revolution des Worts zur Revolution der Tat übergehen“, und anderes mehr, – er vernahm den prominenten Zeugen mit der ihm eigenen beharrlichen Ruhe, machte ihn ein paarmal wütend und ließ zwei Stunden lang beträchtlich schwitzen. Ob damals irgend jemand im Saal eine Ahnung hatte, daß er sich selbst das Urteil qualvollen Todes gesprochen hatte? Ich glaube, keiner von uns vermochte so weit zu blicken. …“ (aus: Rudolf Olden, Vorwort für das Buch von Irmgard Litten „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ Internet: https://www.hans-litten.de/sein-leben/der-junge-anwalt/)
In der faschistischen Presse wurde von da ab gegen Hans Litten gehetzt, bis hin zu kaum verhohlenen Mordaufrufen. Die Erlaubnis zum Führen einer Schusswaffe wurde ihm mit der Begründung abgelehnt, dass der »allgemeine Polizeischutz« ausreichend sei. Da dies offenkundig absurd ist, stellte ihm die Rote Hilfe zeitweise Arbeiter als Begleitschutz. Den Vorschlag, für eine Zeit ins Ausland zu gehen, lehnte er mit der Begründung ab: „Die Millionen Arbeiter können nicht hinaus, also muß ich auch hier bleiben.“
„…Mehrere Prozesse schlossen sich an, in denen es um bewaffnete Überfälle des berüchtigten SA-Sturms 33 ging – mit der immer häufigeren Konstellation, dass nicht die Täter, sondern die Opfer auf der Anklagebank saßen. So im Röntgenstraßen-Prozess. Vor dem SA-Lokal in der Röntgenstraße 12 wurde am Abend des 29. August 1932 eine Gruppe Arbeiter angegriffen, die von einer Versammlung kam. Zwei SA-Leute blieben verletzt, einer tot zurück. Auf die Anklagebank kamen neun der Arbeiter wegen Totschlags aus politischen Motiven, worauf die Todesstrafe stand. In umfangreichen Recherchen und immer neuen Beweisanträgen gelang es Litten, die Nazi-Zeugen zu demontieren, die verkehrten Fronten umzudrehen und die Anklage zu Fall zu bringen. Die SA-Männer waren von ihren eigenen Leuten verwundet bzw. erschossen worden. Am 6. Oktober wurden alle Angeklagten freigesprochen. Zur fälligen Anklage der Nazis wegen Landfriedensbruch kam es allerdings nicht. …“… (Portrait: Hans Litten Von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten)
Ein weiterer Prozess war der sogenannte Felsenecke-Prozess; wieder ging es um einen Überfall eines faschistischen Kommandos, dieses Mal am 19.Januar 1932 auf die Lauben-Kolonie Felsenecke, bei dem ein Arbeiter und ein Faschist getötet worden waren. Im Verlauf des Prozesses wurde Hans Litten wegen »Missbrauchs der Rechte des Verteidigers zu politischen Zwecken« von dem Prozess ausgeschlossen, denn er würde den Prozess in die Länge ziehen und »hemmungslose parteipolitische Propaganda« treiben. Die nächsthöhere Instanz kassiert den Beschluss. In einem neuen Prozess zu der Sache wurde er dann wieder ausgeschlossen, nun wegen einer angeblichen strafbaren Begünstigung eines Mandanten. Dieses Mal hielt die Entscheidung in der höheren Instanz. Zwei kommunistische Angeklagte wurden schließlich aufgrund von Diebstahls des Fahrrades eines SA-Mannes zu sechs Monaten Zuchthaus verurteil, die schon durch die Untersuchungshaft abgebüßt waren. Das Verfahren gegen die SA-Männer wurde aufgrund der Weihnachtsamnestie im Dezember 1932 eingestellt.
In der Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ) vom 11. September 1932 bewertete Hans Litten den Prozess: “Der Satz von Karl Marx, dass das Recht ein Überbau der sozialen Gegebenheiten sei, erweist seine Richtigkeit besonders in Zeiten verschärfter Klassengegensätze. In solchen Zeiten ändern sich die gesellschaftlichen Grundlagen so schnell, dass die Gesetzgebungsmaschine mit der Entwicklung nicht immer Schritt hält. An einem Prozess, der monatelang dauert, kann man in solchen Zeiten besonders deutlich beobachten, wie die Verhandlungsweise sich der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung anpasst. Der Felsenecke-Prozess, der am 20. April 1932 begann, bildet heute den letzten Überrest ordentlicher Gerichtsbarkeit in politischen Sachen inmitten der Arbeit der Sondergerichte. Aber die Entwicklung konnte auch an dem schwebenden Verfahren nicht vorbeigehen. Was in Sondergerichtsverfahren durch Gesetzgebung im Notverordnungswege eingeführt wurde, erreichte man im Felsenecke-Prozess auf anderem Wege. In politischen Prozessen widerspricht die Aufklärung der Hintergründe häufig dem Interesse der herrschenden Klasse.”
„Interview mit Rechtsanwalt Litten“. In: Die Rote Fahne 170 (1932), S. 4.
In der Nacht des Reichstagsbrandes wurde Hans Litten in den frühen Morgenstunden des 28. Februar 1933 verhaftet und in das Polizeipräsidium am Alexanderplatz gebracht. Zunächst kam er wie die gesamte politische Linke Berlins, nach Spandau ins Polizeigefängnis und blieb „als gefährlicher kommunistischer Rädelsführer“ auf Dauer in Haft. Viele der Anderen kamen nach Misshandlungen vorerst wieder frei, Hans Litten von da an nie mehr.
In den Konzentrationslagern Sonnenburg, Brandenburg, Esterwegen, Lichtenburg, Buchenwald und Dachau war er permanenten Misshandlungen ausgesetzt. In der Wachmannschaft von Lichtenburg befanden sich Angehörige des SA-Sturms 33, zu deren Verurteilung Litten im Eden-Palast-Prozess zwei Jahre zuvor wesentlich beigetragen hatte. Sie erinnerten sich an daran und misshandelten Hans Litten so schwer, dass er danach mehrere Monate im Gefängniskrankenhaus in Moabit verbrachte.
Vom Tage seiner Verhaftung an versuchte die Mutter alle ihre alten Verbindungen zu den konservativen Kreisen zu mobilisieren und drang dabei sogar bis zu Goebbels vor, um die Freilassung ihres Sohnes zu erreichen, alles blieb erfolglos. Immerhin gelang es ihr, dass sie fast die gesamte Haftzeit über Kontakt zu ihrem Sohn behalten konnte. Nicht einmal Petitionen wie die von bekannten britischen Persönlichkeiten oder die von über 100 englischen Juristen hatten keinerlei Erfolg. Hitler hatte den Eden-Prozess nicht vergessen. Irmgard Litten dokumentierte ihren mutigen Kampf in einem zunächst auf Englisch unter dem Titel „A Mother Fights Hitler“ erstmals 1940 erschienenen Buch, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Die erste Ausgabe auf Deutsch erschien 1947 im Greifenverlag in Rudolstadt in der DDR. In Paris erschien in den Éditions Nouvelles Internationales, ebenfalls 1940: Litten, Irmgard: „Die Hölle sieht dich an. Der Fall Litten.“
Bis zu seinem Tod war Litten immer wieder schlimmster Gewalt ausgesetzt. Von den Folterungen in den Tod getrieben, erhängt sich Hans Litten am 5. Februar 1938 in Dachau. Die letzte Ruhe fand er auf einem Pankower Friedhof.
„… Seine Mutter emigriert nach England, ruft dort über die BBC die Deutschen zum Widerstand auf und kehrt 1949 in die Bundesrepublik Deutschland zurück, wird dort aber zurückhaltend empfangen und muss sich mit dem neuen deutschen Staat über Entschädigung und den Pensionsanspruch ihres Mannes streiten. 1951 geht sie nach Ost-Berlin, wo Teile ihrer Familie leben und bleibt dort bis zu ihrem Tod zwei Jahre später. In der DDR erscheint ihr Buch erstmals auf Deutsch und ihr Sohn erfährt als Märtyrer große Ehrungen. Beispielsweise wird die Straße, in der das Ostberliner Kammergericht (heute Gebäude des Landgerichts Berlin) liegt, in Littenstraße umbenannt.
Die BRD hingegen vergisst Hans Litten zunächst vollständig. Erst Ende der 1980er Jahre beginnen sich insbesondere linke Juristinnen und Juristen, die auf der Suche nach einer progressiven Tradition ihres Berufsstands sind, mit ihm zu beschäftigen. Das Buch Irmgard Littens erscheint zum ersten Mal in der BRD, die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen verleiht 1988 zum ersten Mal ihren Hans-Litten-Preis, der seitdem alle zwei Jahre an Juristinnen und Juristen verliehen wird, die in besonders hohem Maße demokratisches Engagement bewiesen haben.
Ende der 1990er Jahre beginnt dann eine »Umarmung« und Eingemeindung in den liberalen Mainstream: Wollte 1992 die Berliner CDU die Littenstraße noch umbenennen, kann man schon 1998 im Anwaltsblatt des Deutschen Anwaltvereins in einer Erinnerung an den »unvergessenen Anwalt« von Littens heroischem Kampf lesen, nicht allerdings ohne den Hinweis, dass dieser natürlich kein Kommunist gewesen sei. Zum Jahreswechsel 2000/01 bezieht die Bundesrechtsanwaltskammer ihr neues Büro in der Littenstraße, an dem heute eine Gedenktafel für Hans Litten hängt. Aus diesem Anlass wird auch das Gebäude nach ihm benannt. …“ aus: Der Anwalt des Proletariats von André Paschke https://jacobin.de/artikel/der-anwalt-des-proletariats-hans-litten-rechtsanwalt-rote-hilfe-babylon-berlin-adolf-hitler-gustav-noske-weimarer-republik-andre-paschke/
Im Internet zu finden:
- Portrait: Hans Litten von Norman Paech https://www.vdj.de/portrait-hans-litten
- Der Anwalt des Proletariats von André Paschke https://jacobin.de/artikel/der-anwalt-des-proletariats-hans-litten-rechtsanwalt-rote-hilfe-babylon-berlin-adolf-hitler-gustav-noske-weimarer-republik-andre-paschke/
- Hans Litten, umfangreiche webseite, https://www.hans-litten.de/
- Bericht zur Lesung des Theaterstücks im historischen Plenarsaal des Kammergerichts 2016 file:///C:/Users/NB01/Downloads/DAV%20Artikel.pdf
- Hans Litten: Hitlers Ankläger https://www.tekla-szymanski.com/hans-litten/
- Litten und Hitler – der Edenpalast-Prozess vor dem Landgericht Berlin – Wie ein 27 Jahre alter Rechtsanwalt am 8. Mai 1931 die wahren Ziele Adolf Hitlers aufdeckte von Dr. Christoph Mauntel, https://www.anwaltsblatt-datenbank.de/bsab/document/jzs-AnwBl2013120018-000_832
- DIPLOMARBEIT „Hans Litten. Ein Anwalt zwischen den politischen Extremen in der Weimarer Republik“, verfasst von Laura Pfaffenhueme, auch zur Erinnerungskultur zu Hans Litten.file:///C:/Users/NB01/Downloads/39292.pdf
- Auf den Spuren von Hans Litten Fotos und Text: Leonie Schottler https://www.anwaltsblatt-datenbank.de/bsab/document/jzs-AnwBl2013120032-000_9
- Irmgard Litten – “Trotz der Tränen” https://www.convivio-mundi.de/texte-bibliothek/menschenwuerde/trotz-der-traenen.html
- Hans Litten zum 100. Geburtstag, Gedenkveranstaltung am 22. Juni 2003 von Rechtsanwalt Gerhard Jungfer, https://www.brak-mitteilungen.de/media/brakmitt_2003_04.pdf
- Hans Litten Foto https://www.anwaltsgeschichte.de/fotos-und-dokumente/gerichtsfotografie/hans-litten/
- Heinz Düx: Anwalt gegen Naziterror. In: Jürgen Seifert (Hrsg.): Streitbare Juristen. Eine andere Tradition. Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 1988 // im Netz zu finden in Friedrich-Martin Balzer: „Heinz Düx – demokratischer Jurist und Antifaschist“ Seite 897: Hans Litten (1903-1938) Anwalt gegen Naziterror, http://www.max-stirner-archiv-leipzig.de/dokumente/DuexHeinzJustizUndDemokratieGesammelteSchriften1948-2013.pdf
Bücher:
- Eine Mutter kämpft gegen Hitler: Mit einem Vorwort von Rudolf Olden und einem Nachwort von Heribert Prantl Verlag: Ars Vivendi, 2017.
- Ein Mann, der Hitler in die Enge trieb – Hans Littens Kampf gegen den Faschismus – ein Dokumentarbericht. Brück, Carlheinz von: Berlin (DDR), Union Verlag, 1975, darin ausführlich zur Vernehmung Hitlers durch Hans Litten
- Denkmalsfigur: Biographische Annäherung an Hans Litten 1903-1938, Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich und Stefanie Schüler-Springorum, Wallstein Verlag, 2008
- Hans Litten – Anwalt gegen Hitler Eine Biographie von Knut Bergbauer, Sabine Fröhlich und Stefanie Schüler-Springorum im Wallstein Vlg. 2022 https://www.wallstein-verlag.de/9783835351592-hans-litten-anwalt-gegen-hitler.html
Schriftenreihe des Hans-Litten-Archiv
zur Geschichte der staatlichen Repression, Band1
Anlass der Veröffentlichung ist der 70. Jahrestag der tödlichen Polizeischüsse auf den Friedensaktivisten Philipp Müller vom 11. Mai 1952 in Essen. Er war das erste Todesopfer im Zuge politischer Verfolgung in der BRD. Im Kalten Krieg gab es vielfältige und geradezu massenhafte Repressionen gegen Kommunist*innen und andere Antimilitarist*innen, und nach dem Aufkommen der
Außerparlamentarischen Opposition kamen in Westdeutschland immer wieder politisch Aktive, besonders auf Demonstrationen, durch Polizeimaßnahmen ums Leben. Auch heute sind die Bedingungen, die damals zur Erschießung Philipp Müllers führten, nicht völlig andere. Im Zuge immer schärferer Polizei- und Versammlungsgesetze erleben wir sogar eine Art Rückentwicklung zum repressiven Klima der Adenauer-Ära.
Der 11. Mai 1952 war ein Moment der Zuspitzung innenpolitischer Auseinandersetzung in der westdeutschen Gesellschaft. Die Konfrontation zwischen Sowjetunion und USA und ihren jeweiligen verbündeten Staaten führte zur Teilung Deutschlands. Die westlichen Besatzungszonen wurden als separater Staat zusammengeschlossen. Die Regierung Adenauer setzte mit aller Kraft auf die Integration ins entstehende westliche Militärbündnis NATO. Dazu gehörte die so genannte Wiederbewaffnung, mit der eine neue westdeutsche Armee gegründet werden sollte. In der Bevölkerung war eine pazifistische Stimmung weit verbreitet. Diese wurde von KPD, FDJ und anderen antimilitaristischen Gruppen und Organisationen bis ins bürgerliche Lager hinein aufgegriffen, unter anderem mit der Kampagne für eine Volksabstimmung über die Remilitarisierung. Mit dem kurzfristigen Verbot der Friedenskarawane in Essen sollte dieser breiten Bewegung ein Ende gesetzt werden. Nach dem 11. Mai wurde kein Polizist vor Gericht gestellt – dafür aber um so mehr politische Aktivist*innen.
Im September 2016 wurde die „Schriftenreihe des Hans-Litten-Archivs zur Geschichte der Roten Hilfe“ mit Silke Makowskis „Helft den Gefangenen in Hitlers Kerkern“ eröffnet. Nun hat es nochmals mehr als fünfeinhalb Jahre gedauert, bis wir als Hans-Litten-Archiv e. V. (HLA) den zweiten Band edieren konnten: In Markus Mohrs umfangreicher, präziser Arbeit „Lesen – Weitergeben – Diskutieren – Weitergehen!“ werden „die Roten Hilfen als Teil der Fundamentalopposition in Westdeutschland im Spiegel ihrer Flugblätter in den Jahren 1969 – 1975“ beschrieben. Die Texte werden flankiert von unzähligen Abbildungen dieses Materials aus den 1960er- und 1970er-Jahren, das – in wertvollen Originalen vorliegend – hierfür intensiv analysiert wurde.
Wir sind Markus sehr dankbar, dass er sich auf solch hohem Niveau unserer sozialgeschichtlichen Aufgabe gestellt hat: die ehedem geführten Kämpfe gegen unzumutbare Verwerfungen gesellschaftlicher Zustände zu erforschen und mit diesem Band zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird es möglich, sich die früheren Proteste, Bewegungen und Erfahrungen in der Retrospektive anzueignen und plausibel erlebbar ins Jetzt zurückzuholen: Auf dieser les-, weitergeb- und diskutierbaren Hintergrundfolie können wir so weiter-, vielleicht sogar über die derzeitigen Verhältnisse hinausgehen.
Die Bedeutung, die solch eine detaillierte Aufarbeitung hat, ist nicht zu überschätzen. Nur so lässt sich verstehen, warum es historisch notwendig war, wie sich die fundamentaloppositionellen Roten Hilfen Westdeutschlands (BRD), die aus den 68er-Kämpfen entstanden waren, veränderten: Aus ihrer damals vehement postulierten Unterschiedlichkeit heraus entwickelten sie sich zu dem, was die Rote Hilfe e. V. zurzeit darstellt – eine „parteiunabhängige strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation“ mit mehr als 14.000 Mitgliedern.
Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre gab es noch keine Informationstechnologie, die es ermöglicht hätte, rasend schnell dissidente Positionen grenzenlos zu streuen oder unmenschliche Repressionsmaßnahmen zu entlarven und zu skandalisieren. Was es aber gab, waren Flugblätter!
Deshalb ist es bedeutsam, sich – wie im nun vorliegenden Konvolut – dieser „Flug-Schriften“ anzunehmen, die laut der Definition in Grimms Wörterbuch von 1854 „auf augenblickliche Wirkung berechnet“ wurden und „meist propagandistisch … abgefasst“ waren. Die nach der Student*innenrevolte der Jahre 1967/68 sich „in West-Berlin und Westdeutschland [ausbreitende] linke Fundamentalopposition … gewann in vielfältig organisatorischer Weise Gestalt; so auch in der Solidaritätsbewegung mit juristisch Verfolgten und Gefangenen“ (Markus Mohr); und eine ihrer bedeutendsten Gestaltungsformen – auch im Hinblick auf die (potenzielle) Ausweitung dieser sozialen Proteste – waren eben Flugblätter. Im Gegensatz zu gebundenen Büchern, die in zahllosen Bibliotheken verwahrt und zumindest antiquarisch noch erhältlich sind, sind Flugblätter nur für eine kurzzeitige, tagesaktuelle Nutzung gedacht. Übriggebliebene Restexemplare wurden von den Verfasser*innen oftmals weggeworfen, und es gab auch über Jahrzehnte hinweg keine linken Forscher*innen, die diese Quellengattung der Rote-Hilfe-Bewegung archiviert, kontextualisiert und (geschichtswissenschaftlich) korrekt „eingeordnet“ hätten. Entsprechend rar ist diese „graue Literatur“, die faszinierende Einblicke in den politischen Alltag der Solidaritätsaktivist*innen der 1970er Jahre gewährt. Zu den frühesten in der BRD verbreiteten Flugblättern mit RH-Bezug gehören jene der „Initiative für Genossenschutz zum Strafprozess gegen Horst Mahler“, mit denen dazu aufgerufen wurde, sich bei der noch aufzubauenden „Rote Hilfe-Organisation“ in „geeigneter Art und Weise politisch zu engagieren“.
Markus führt uns in seinem eröffnenden Kapitel „Flugblatt, auf augenblickliche Wirkung berechnet ...“ kenntnisreich durch die verschlungenen Pfade der ersten RH-Organisierungsansätze, beginnend bei den RH-Komitees, die von der parteimaoistisch ausgerichteten KPD/ Aufbauorganisation (AO) gegründet worden waren. Im Folgenden schildert er die über die Strukturen der bewegungsmaoistischen, „autonomen“ „Gruppe Proletarische Linke/Parteiinitiative“ laufenden Zusammenschlüsse namens RH_★, die es dann bald in West-Berlin, München, Hamburg und Frankfurt am Main geben sollte. Über das am Kommunistischen Bund orientierte Initiativkomitee Arbeiterhilfe (IKAH) geht Markus Mohr zu den ebenfalls „Rote Hilfe“ leistenden, leninistisch grundierten „Komitees gegen Folter“ weiter, die ihren Fokus sehr stark auf die Gefangenen aus der RAF gelegt hatten und diesbezüglich äußerst viele Flugblätter veröffentlichten. Anschließend nimmt er wieder Kurs auf die KPD/AO, die „unter dem Druck einer Verbotsdrohung durch die Bundesregierung“ von West-Berlin weg eine „nationale“, also BRD-weite RH e.V. aus der Taufe heben wollte. Den Abschluss findet dieser Überblick mit der KPD/ ML, die Ende Januar 1975 in Dortmund die Rote Hilfe Deutschlands bildete, aus der dann die heutige Rote Hilfe e.V. entstehen sollte. Was dann kommt, ist die auf sechs Kapitel verteilte Beantwortung der Fragen, wie sich dieser „komplexe Selbstorganisierungsprozess der westdeutschen Fundamentalopposition in ihren Flugblättern gespiegelt“ hat und was „die Themen der Roten Hilfe in ihren Flugblättern“ waren. Markus zieht nach der Sichtung von etwa 500 Flugblättern die Bilanz, dass die Roten Hilfen (bis 1975) zwar vornehmlich „die stets als unerträglich beschriebenen Maßnahmen der Polizei und der Justiz, kurz: die kontinuierliche Brandmarkung von etwas, was als Polizeiterror und Klassenjustiz skandalisiert werden solle“, thematisiert hätten. Zugleich beackerten sie inhaltlich durchaus auch Politikfelder, die weit über die zentralen Topoi antirepressiven Engagements hinausgehen, aber trotzdem aus ihrer Sicht untrennbar damit verbunden waren und deshalb in die Kämpfe miteinbezogen werden mussten – eben weil sie für die damaligen sozialen Bewegungen und deren Träger*innen von elementarer Bedeutung waren: Seien es die heftigen Auseinandersetzungen um (exorbitante) Mietkostenerhöhungen oder die ersten Hausbesetzungen, seien es die teilweise äußerst militant geführten Fahrpreiskämpfe oder die breit wiederaufflammenden Proteste gegen den bis heute nicht abgeschafften Paragraphen 218, seien es die Unterstützungen von ausländischen Arbeiter*innen, denen beispielsweise wegen ihrer Beteiligung an Streiks Ausweisung angedroht wurde, die zahllosen Berufsverbote quer durch alle Bevölkerungsschichten nach dem so genannten Radikalenerlass oder willkürliche Gewerkschaftsausschlüsse – gegen all dies mussten Rote Hilfen massiv in Stellung gebracht werden. Das war notwendig, weil in all diesen Bereichen staatliche Repression in unterschiedlichen Facetten einen besorgniserregenden oder gar angsteinflößenden Ausdruck fand und letztendlich Menschen, die sich für oder gegen etwas eingesetzt hatten, zur „Rechenschaft“ zog – unter Anwendung des ganzen Repertoires gewaltförmiger Disziplinierungsmethoden.
Und die gesichteten Flugblatt-Texte sind erstaunlich aktuell geblieben; ihnen ist oft nicht anzumerken, dass sie schon auf ein Alter von fast 50 Jahren zurückblicken. Wenn wir da lesen können, dass die „Rote Hilfe alle [unterstützt], die wegen ihres Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung vor die Schranken der Klassenjustiz gezerrt werden [und] dabei ... jeden politisch Verfolgten durch die Unterstützung in der politischen Prozessführung und durch juristische Hilfe“ bestärkt, dann ist das heute noch von Gültigkeit – und war es auch schon zu den Anfängen der Rote-Hilfe-Komitees ab 1921. Die Zeitlosigkeit vieler der geäußerten Forderungen und Prinzipien belegt, gerade im Angesicht des komplexen Selbstorganisierungsprozesses, der jahrzehntelang durchschritten werden musste, die Kontinuität, die von den Anfängen der Roten Hilfen Anfang der 1970er-Jahre zur derzeitigen strömungsübergreifenden Roten Hilfe e. V. führt.
Mit Markus Mohrs fundierter Untersuchung, die einen von Turbulenzen geprägten Zeitraum von etwa sechs Jahren abdeckt, lässt sich dies hervorragend nachzeichnen. Sie weckt damit ein konturierteres Verständnis der mannigfaltigen Vorgänge, aus denen heraus sich die sehr unterschiedlich ausgerichteten Roten Hilfen zu einer gemeinsamen wachsenden Schutz- und Solidaritätsorganisation zusammengefunden haben. Die Entwicklung wird eindrücklich veranschaulicht anhand von Flugblättern, die verschiedenen Zielsetzungen dienten: Sie mobilisierten, sie agitierten, sie stärkten die radikal linken Strukturen, die mit überbordender staatlicher Repression konfrontiert waren; sie schufen Gegenöffentlichkeit. Sie wurden gelesen, weitergegeben, diskutiert – um danach weiterzugehen. Lasst uns zusammen weitergehen!
Michael Dandl, Vorstand Hans-Litten-Archiv e. V. im Dezember 2021
Verfassungsschutz bezeichnet Hans-Litten-Archiv weiterhin als extremistisch und verfassungsfeindlich
Verfassungsschutz bezeichnet Hans-Litten-Archiv weiterhin als extremistisch und verfassungsfeindlich Bundesinnenminister Horst Seehofer und das Hans-Litten-Archiv werden wohl keine Freunde mehr. Nachdem das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg es letztes Jahr dem Verfassungsschutz verboten hat, das Hans-Litten-Archiv als „extremistische Gruppierung“ zu bezeichnen, hat der Geheimdienst flink die Kategorie „extremistische Struktur, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt“ geschaffen. Als solche wird das Hans-Litten-Archiv im Mitte Juni vorgelegten Verfassungsschutzbericht des Bundes für das Jahr 2020 im Kapitel über die Rote Hilfe e. V. bezeichnet. Die Verfassungsfeindlichkeit des Archivvereins besteht nach Ansicht des Geheimdienstes in der „nachdrücklichen Unterstützung“ der vom Verfassungsschutz gleichfalls als „linksextremistisch“ eingestuften“ Roten Hilfe e. V. Festgemacht wird dies u. a. an gemeinsamen Lesungen und Veranstaltungen des Archivs mit Ortsgruppen der Rote Hilfe e. V. Gemeint sind wohl Präsentationen einer Broschüre des Hans-Litten-Archivs zum antifaschistischen Widerstand der Roten Hilfe Deutschlands ab 1933. Weiter heißt es im Geheimdienstbericht unter Verweis auf ein ca. 10 Jahre altes Zitat eines Archivmitarbeiters: „Zudem dient die archivarische und aufbereitende Tätigkeit des HLA dazu, ‚junge GenossInnen‘ für die Wurzeln der RH zu begeistern und die aufgearbeitete Historie ‚für die Kämpfe der Gegenwart zu nutzen‘“. Lediglich im Registeranhang, in dem Gruppierungen aufgeführt werden, „bei denen die vorliegenden tatsächlichen Anhaltspunkte in ihrer Gesamtschau zu der Bewertung geführt haben, dass die Gruppierung verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, es sich mithin um eine extremistische Gruppierung handelt“, wird beim Hans-Litten-Archiv gemäß dem Gerichtsurteil in Klammern ergänzt, der Archivverein sei „nicht selbst als extremistische Gruppierung, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, aufgeführt, sondern als Unterstützer einer solchen Gruppierung“ zu sehen. Angesichts der Diffamierung unserer wissenschaftlichen, publizistischen und Bildungsarbeit erscheint es uns belanglos, ob wir nun eine „extremistische Struktur“ oder „Gruppierung“ sein sollen. Denn tatsächlich ist das Hans-Litten-Archiv weder das eine noch das andere, sondern ein Archivverein, der sich der Sammlung historischer Dokumente und der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Geschichte der verschiedenen Rote-Hilfe-Vereinigungen und Solidaritätsorganisationen der Arbeiterbewegung und sozialen Bewegung der letzten hundert Jahre widmet. Dabei ist die Befassung mit Geschichte für uns in der Tat kein Selbstzweck. Denn wir wollen die Erfahrungen und Lehren der Vergangenheit, insbesondere das Eintreten Roter Helferinnen und Helfer gegen Demokratieabbau und Faschismus, wachhalten und für heute nutzbar machen. Wenn der Verfassungsschutz das für extremistisch hält, sagt das vor allem etwas über den Standpunkt dieses Geheimdienstes selbst aus. Erinnert sei daher, dass die Überwachung des Hans-LittenArchivs noch auf die letzten Amtswochen des wegen seiner Verharmlosung neonazistischer Umtriebe für die Bundesregierung untragbar gewordenen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen zurückgeht, der heute als CDU-Bundestagskandidat mit antisemitischen Anspielungen von sich reden macht. Wir werden gemeinsam mit unseren Anwältinnen und Anwälten beraten, ob es sinnvoll ist, erneute rechtliche Schritte gegen den Verfassungsschutz einzuleiten oder ob wir unsere begrenzten Finanzmittel lieber in den Ankauf seltener historischer Dokumente investieren wollen. Die Mitglieder des Hans-Litten-Archivs e. V. werden sich durch die Diffamierung durch den Verfassungsschutz jedenfalls nicht von ihren wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten abbringen lassen. Wir appellieren an dieser Stelle an die demokratische Öffentlichkeit, nicht zuzulassen, dass ein Geheimdienst als Zensor zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Engagements auftritt. Dr. Nikolaus Brauns, 1. Vorsitzender
das Presseecho: