Von Michael Dandl

„Wer für Hans Litten eintritt, fliegt ins Lager; selbst wenn Sie es sind!“

Mit diesen Worten soll Hitler den „Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen“, Friedrich Wilhelm Victor August Ernst, angebrüllt haben, als dieser sich direkt beim „Führer“ für den in der Weimarer Republik zu Berühmtheit gelangten, allseits geschätzten und als überaus kompetent respektierten Rechtsanwalt der Roten Hilfe Deutschlands (RHD) einzusetzen wagte.

„Es wird niemand irgendetwas für Litten erreichen!“

Mit diesen Worten soll Hitler - blaurot im Gesicht anlaufend - den „furchtbarsten Juristen“, den gnadenlosesten „Hin-Richter“, den „Massenmörder in roter Robe“, Roland Freisler, angebrüllt haben, als dieser den Inhalt eines Gesprächs mit dem „Führer“ auf den am 28. Februar 1933 Inhaftierten zu lenken wagte.

Diese beiden Verbal-Eruptionen Hitlers bringen leitmotivisch den nationalsozialistischen Standpunkt zum Ausdruck, an dem sich der massive, bald international ausgefochtene Kampf für die Freilassung Littens zu orientieren hatte.

Auch Littens Mutter, Irmgard Litten, hatte sich daran zu orientieren. Über einen mit unmenschlichen Qualen und Zermürbungen überfluteten Zeitraum von fünf Jahren trat sie unglaublich energisch, unglaublich mutig für ihren urplötzlich in Haft genommenen Sohn ein, ohne selbst „ins Lager zu fliegen“. Über fünf Jahre hinweg konnte sie immer wieder sehr viel für ihren weggesperrten Hans „erreichen“.

Und doch: Am 4. Februar 1938 - wohl kurz vor Mitternacht - haben ihn dann Faschisten im Konzentrationslager Dachau ermordet: Irmgard Litten, die am 6. Februar 1938 nach Dachau gekommen war, um dort im berüchtigten „Mörderlager“ (Hans Beimler) als erste und letzte Familienangehörige ihren leblosen, ihren toten Sohn zu sehen, war vor Ort unmittelbar bewusst geworden, dass einer der Nazis, der sie und ihre mitangereiste Ärztin zur so genannten Leichenhalle des KZ begleitete, einer der Mörder Hans Littens war. Sie beschreibt diesen SS-ler, der ihn offiziell „nach seinem Tode als erster gesehen hätte“, als „abschreckend verbrecherisch“ aussehend, als „typischen Mörder“, als „Henkersknecht“. Auch wenn sich irgendwann die „Selbstmord“-Version durchsetzen sollte, steht auf der an Littens Geburtshaus in der Burgstraße 43 in Halle an der Saale angebrachten Gedenktafel deshalb zu Recht: „Er wurde in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und am 4. Februar 1938 im Konzentrationslager Dachau ermordet.“

Litten, zu diesem Zeitpunkt „ein zum Invaliden geprügelter halbblinder und halbtauber Mann, der nur noch auf Krücken gehen konnte und unter Ohnmachtsanfällen und Herzkrämpfen litt“ (Stefanie Schüler-Springorum), war ja explizit deswegen nach Dachau verbracht worden, weil die Faschisten ihn endgültig „loshaben“ wollten; das dortige KZ-Personal, das die etwa 20 Kilometer vom Zentrum Münchens entfernte ehemalige Munitionsfabrik gar in eine „Mörderschule“ zu verwandeln hatte, hatte den Ruf, schon sehr viele Insass*innen einfach totgeschlagen oder durch bestialische Folterungen in den so genannten Suizid getrieben zu haben. Und das im Übrigen von Anfang an: Im Lager, das als erstes und einziges über die ganzen langen zwölf Jahre der Nazi-Diktatur hinweg Bestand hatte, waren bereits bis August 1933 bis zu 50 „Todesfälle“ zu beklagen. Der bayerische Kommunist, Reichstagsabgeordnete und antifaschistische Spanien-Kämpfer Hans Beimler, der nach „vier Wochen in den Händen der braunen Banditen“ aus diesem sehr frühen Konzentrationslager fliehen und schließlich in Sicherheit gebracht werden konnte, fügte seinen bereits am 19. August 1933 veröffentlichten Erinnerungen an diese grausame Tortur einen Anhang an, in dem er einige der dortigen „Todesfälle“ auflistet; bereits am 4. Januar 1934 (!) war in der Wiener „Arbeiter-Zeitung“ ein darauf Bezug nehmender Artikel erschienen: „50 Ermordete in Dachau“. Der erschütterndste Augenblick im Leben Hans Beimlers war, als ihn am 7. Mai 1933 der von der SS eingesetzte, Furcht und Schrecken verbreitende KZ-Aufseher brutal aus seiner Zelle riss und ihn in die Zelle 4 warf: „Vor meinen Füßen auf dem Steinboden lag die zerschundene, mit dicken Beulen bedeckte Leiche meines langjährigen Kampfgenossen Fritz Dressel.“ Sollten die Schergen des „Tausendjährigen Reiches“ bei Festnahmen also inbrünstig den Schlachtruf „In Dachau sehen wir uns wieder!“ herausbrüllen, so war dies unmissverständlich als Todesdrohung zu verstehen …

Was in den fünf Jahren vor der Ermordung ihres Sohnes mit ihm „gemacht“ wurde, fasste Irmgard Litten in ihrem chronologischen Bericht „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ in eindringlichen Ausführungen zusammen. Dieser Titel des Buches, das 1940 und 1941 – also noch während des Zweiten Weltkrieges – in Frankreich, England, China, Mexiko und den USA erschienen war, rekurriert auf eine im englischsprachigen Raum üblich gewordene Charakterisierung Hans Littens: „The Man Who Crossed Hitler“; er stellt eine „Verlängerung“ dar: Der mit immenser Vehemenz gegen den Faschismus agierende Rechtsanwalt und Strafverteidiger hatte im viel beachteten „Edenpalast-Prozess“ am 8. Mai 1931 (!) Adolf Hitler in den Zeugenstand rufen lassen und dann vor Gericht den tatsächlich persönlich erscheinenden Anführer der von seinen Anhänger*innen herbeigesehnten „Nationalen Revolution“ „in die Enge getrieben“. Litten kämpfte dabei erfolgreich gegen Hitler, indem er überzeugend dessen zuvor geleisteten „Legalitätseid“ für alle registrierbar zerschmetterte, mit dem sich der „Führer der NSDAP“ als „verfassungskonform“ und dem systematischen beziehungsweise taktisch planmäßigen Staatsterror abgeneigt zu inszenieren versucht hatte. Und nun, da er nach der Machtübertragung an die rachsüchtigen Nazis (30. Januar 1933) sofort in deren drastische, abgeschottete Folterhaft gekommen war, musste dieser Littensche Kampf gegen Hitler, gegen die nun herrschende Barbarei von drinnen nach draußen „verlängert“ werden. Zu und von Irmgard Litten.

Ich habe ihren Bericht „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ („Una madre contra Hitler“) in einem Rutsch durchgelesen. Wobei, „in einem Rutsch“ entspricht nicht ganz der Realität – es gibt viele Passagen im Buch, durch die unmöglich „hindurchgerutscht“ werden kann; jene sind von einer solchen folter-, gewalt- und menschenverachtungsdeskribierenden Wucht, dass mensch das rezipierte Buch dann von sich weg legen muss, um in Grauen, Trauer, Wut und unerträglicher Ohnmacht inne zu halten. Ja, sozialgeschichtliches Erinnern (an Widerstand und seine Schlüsselfiguren und seine Ausdrucksformen) sollte immer Kämpfen bedeuten oder für zukünftige emanzipatorische Kämpfe nutzbar gemacht werden können, selbst wenn die Auseinandersetzung mit den ausgebreiteten Inhalten eines nachträglichen Rekapitulierens eine*n zunächst hoffnungslos zurücklassen mag. Aber die hier in aller Deutlichkeit beschriebenen Folterungen und Hinrichtungen müssen im Angesicht des faschistischen Terrors ohnmächtig machen, weil sie unerträglich sind. Und weil wir sie nachträglich auch nicht mehr ungeschehen machen können - hilflos, wie wir sind; nicht glauben könnend, dass Menschen „zu so etwas“ fähig sind. Deshalb müssen wir an solchen Stellen inne halten.

Wenn mensch dann das ganze Buch gelesen hat, bleiben mehrere wesentliche Erkenntnisse hängen, die es eindringlichst dargestellt hat:

Irmgards Bericht stellt zunächst klar, welche Bedeutung die Inszenierung des Reichstagsbrandes für die Nazis hatte. Fast eine Woche vor der so genannten Reichstagswahl am 5. März 1933 nutzte die NSDAP dieses von ihr symbolträchtig zum kommunistischen, klassenkämpferischen „Fanal zum blutigen Aufruhr und zum Bürgerkrieg“ umgewidmete Ereignis, um unter massivstem Einsatz nunmehr verfügbarer staatlicher Machtmittel brutalste, bestialische Gewalt gegen Mitglieder linker Parteien, Organisationen, Arbeiter*innenvereine, gegen Intellektuelle und sonstige „Elemente“ anwenden zu können. Auf der Grundlage der sofort erlassenen „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die die Grundrechte der Weimarer Verfassung de facto außer Kraft setzte und der auf Eliminationsideologie gebauten NS-Diktatur den Weg in ihre spezifische „Legalität“, in ihre eigene „Verfassungsmäßigkeit“ ebnete, wurde auch Hans Litten in so genannte Schutzhaft genommen - und zwar am ganz frühen Tage nach dem Reichstagsbrand, am 28. Februar 1933 („um vier Uhr morgens holte man ihn aus dem Bett“).

Das war ein wichtiger, entsprechend vorstrukturierter Teil des selbst gesetzten, reichsregierungsperpetuierten „Auftrags“: Die Faschisten („an der Macht“) räumen so schnell wie nur möglich auf mit allen von ihnen als solche markierten Feind*innen des „Deutschen Volkes“ und des republiktransformierenden NS-Staats. Und Hans Litten, den sie dann ganz schnell „abholten“, war für die Nazis nicht nur ein „jüdisch-bolschewistischer Volks-Schädling“, einer der „geistigen Führer des Kommunismus in Deutschland“ und ein reichsweit bekannter „Rot-Mord-Verteidiger“, sondern auch ein äußerst selbstbewusster, für die Herrschenden insgesamt unangenehmer Anwalt, der sich direkt mit Hitler, dem nationalsozialistischen Heilsbringer, der „Erscheinung“, die die „Deutschen“ wie ein homogenisierender Erlöser aus ihrer vermeintlich desolaten Situation zu befreien im Stande sei, angelegt und ihm dabei eine sehr hohe politische Niederlage zugefügt hatte: Spätestens nach dem „Edenpalast-Prozess“ wusste die ganze Welt, dass das „Dritte Reich“, das da kommen würde, kein an „Verfassungskonformität“ oder gar „Rechtsstaatlichkeit“ gebundenes politisches System werden würde, sondern ein offen terroristisches, ein planmäßig eliminatorisch operierendes. Und dafür war Hans Litten verantwortlich. Dafür musste er büßen, dafür musste er - so oder so - mit seinem Leben bezahlen.

In Irmgards Bericht wird auch deutlich, dass Littens Mutter, die den „Nazis [jede noch so] ungeheure Barbarei zutraute“, von Anfang an wusste, dass es durchaus im Bereich des Wahrscheinlichen zu verorten war, dass ihr ältester Sohn die auf mehrere Jahre angelegte Einkerkerung nicht überleben würde. Sie hatte ihn bereits vor der Machtübertragung an die Nazis immer wieder eindringlich angefleht, doch „wenigstens für eine Weile ins Ausland zu gehen. Ein Haus und Geld waren ihm dort zur Verfügung gestellt“. Aber, er lehnte konsequent mit folgendem Diktum ab: „Die Millionen Arbeiter können nicht heraus, also muss ich auch hier bleiben.“ (Ihm war also bewusst, dass sie ihn - zuerst den „Krieg im Inneren“ vollführend und dann den „Krieg nach außen“ in die ganze Welt tragend - „abholen“ würden, obwohl er allen anderen Klassengenoss*innen, Kampfgefährt*innen gegenüber das Privileg hatte, rechtzeitig zu gehen. Und, daraus schlussfolgernd, er war, ist und will sein Teil des revolutionären Klassenkampfes, dem die historische Aufgabe zukommt, den Deutschen Faschismus an der Macht im Lande des politischen Hauptfeindes zu verhindern.)

Und doch ist es dann nochmals ein großer Sprung zum tiefgreifenden Real-Werden des eigentlich Unvorstellbaren. Denn das, was die von der verdichteten Form bürgerlicher Herrschaft „eingesetzten“ Faschisten dann „an den Tag legten“, war an Grausamkeit, Menschenverachtung, Brutalität, fataler Männlichkeit, Bestialität, Mordlüsternheit, Gewaltförmigkeit, Terror nicht nur nicht zu überbieten; es stand ganz einfach außerhalb der Vorstellungskraft derjenigen, die davon betroffen waren oder getroffen werden sollten. Auch wenn sich die NSDAP seit ihrer Gründung Anfang 1920 im mit allen Mitteln zu führenden Krieg an unzähligen Fronten wähnte; auch wenn sie in den 13 Jahren vor dem 30. Januar 1933 diesen Krieg, diesen mörderischen Terror paramilitärisch auf die Straßen getragen und dabei viele politische Gegner*innen für immer aus dem Weg geräumt hatte – dass sie die Infrastruktur, die Logistik, das Institutionengefüge, die Behördenapparatur, die höchste Aggregationsstufe des öffentlichen Haushalts der Weimarer Republik so rasant, so kompromisslos, so konsequent für eine solche Potenzierung der Unterdrückungsmaßnahmen ins Unermessliche instrumentalisieren würde, das konnte nicht vorausgesagt werden.

Dies hätte aber - auch oder vor allem auf der analytischen Basis komparativer Durchleuchtungen bereits existierender faschistischer oder weiß-terroristischer Regime in Europa - proaktiv verhindert werden können, wenn auf Menschen wie Litten, der die nationalsozialistische Ideologie messerscharf sezierte und energisch vor deren In-Staat-Setzung warnte, gehört worden wäre: Wenn die nazistische, führerprinzipientreue, kombattantäre Massenbewegung mit all ihren eklatanten Ausformungen rechtzeitig und nachhaltig zerschlagen worden wäre (auch oder gerade mit staatlichen Mitteln), anstatt auf höchsten republikrepräsentativen Ebenen immer weitreichendere Bündnisse, Allianzen, Koalitionen mit ihr einzugehen (wie zum Beispiel in Thüringen, das nach den Landtagswahlen vom 8. Dezember 1929 laut Manfred Weißbecker zum „regionalen Experimentierfeld faschistischer Machtausübung“ wurde; die „bürgerlichen“ Landesregierungsparteien DNVP, DVP, „Thüringer Landbund“ und „Reichspartei des deutschen Mittelstandes“ hatten u.a. Wilhelm Frick, der maßgeblich am Aufbau und an der Etablierung des NS-Staats beteiligt war, zum „Staatsminister für Inneres und Volksbildung“ ernannt).

So „begann ab Februar 1933 die Verfolgung der politischen Gegner*innen der Nationalsozialist*innen. (…) Zulässig waren nun präventive Verhaftungen ohne Rechtsbeistand und Gerichtsurteil. (…) Einer Massenverhaftungswelle gegen Kommunist*innen folgte eine weitere gegen Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen, die nicht nur eingesperrt, sondern massiv misshandelt wurden; mehrere Hundert von ihnen wurden ermordet. (…) [E]ine weitere Verhaftungswelle gegen die Anhänger*innen bürgerlicher Parteien [folgte]. Immer wieder wurden aber auch Jüdinnen*Juden oder Personen, die nicht in Opposition zum Nationalsozialismus standen, aber persönliche Auseinandersetzungen mit NSDAP-Funktionär*innen gehabt hatten, verhaftet.“ (Dana Schlegelmilch in: Lotta Nr. 81, Seite 46: „Moor und Heide, Verfolgung, Leid und Tod“)

Irmgard legt dar, mit welcher Strategie sie den Kampf für die Freiheit ihres Sohnes, der zu den prominentesten politischen Gefangenen des Reichs gehörte, verfolgt hat. Die zwei am klarsten zu konturierenden Stoßrichtungen ihres unerbittlichen Einsatzes sind:

a) als Mutter des Gefangengenommenen innerhalb des staatlichen Machtapparats und der Stufung der offiziellen Entscheidungsträger*innenschaft auf eine relevante Regulationsebene zu kommen, von der aus die Freilassung ihres Sohnes angeordnet werden kann (und dann auch konkretisiert wird) und

b) als Mutter des Gefangengenommenen all die von ihr im Zusammenhang mit der konkreten Festnahmesituation ihres Sohnes beschafften Informationen „aus erster Hand“ unverfälscht an Stellen außerhalb des Dritten Reiches weiterzugeben oder weitergeben zu lassen, um von dort aus internationalen beziehungsweise hochkarätigen diplomatischen Druck auf das deutsch-faschistische Terrorregime auszuüben, dem es sich irgendwann beugen muss.

Um erfolgreich in diese Richtungen stoßen zu können, musste sie den Nazis gegenüber, mit denen sie es fortan zu tun haben sollte, eine Rolle spielen; sie musste sich ihnen gegenüber „verstellen“, musste von ihnen falsch eingeordnet werden, musste von ihnen mit den falschen Attributen markiert werden. Immer wieder spricht Irmgard davon, wie „übertrieben korrekt“ sie den obligatorischen „Heil Hitler“-Gruß zu zelebrieren wusste; dabei gab es für sie eigentlich fast nichts Schlimmeres, als diesem zu einem „Gott“ oder „Caesaren“ gemachten „Verbrecher gegen die Menschheit“ in dieser von der lateinischen Grußformel „Ave“ abgeleiteten Façon individuell zu huldigen. (Bisweilen wurde sie gar für eine „fanatisch national“ eingestellte Person gehalten, die nur aufgrund ihrer „persönlichen Erfahrungen“ etwas „unerfahren“, also selbstgefährdend vorgehe.) Sie musste an von der Welt abgewandten, dunklen, dunkelsten Orten der Geiselnahme, der Erpressung, der Misshandlung, der Folter, der Exekution so tun, als sei sie eine „arische“ Mutter „aus besserem Hause“, der es „oberflächlich“ nur darum gehe, die physische, psychische und geistige Stabilität ihres Sohnes nicht irreparabel zerbrechen zu lassen (durch die jeweils herrschenden Bedingungen an diesen Orten). Dabei wusste sie, dass eine gewisse „Anpassung“ an die „Gepflogenheiten“, die stringenten Modalitäten des faschistischen Systems und seiner fanatisierten Repräsentanz vonnöten war, um überhaupt an einflussreiche Entscheidungsträger heranzukommen und diese dann von der offensichtlichen Sinnlosigkeit der Einkerkerung Littens zu überzeugen. Den langen, intensiven politischen Gesprächen mit ihrem sich selbst „links von der KPD“ verortenden, systemantagonistischen Sohn konnte Irmgard entnehmen, dass das „positive“, von staatlichen Gesetzgebungsorganen geschaffene Recht laut Marx ein in Zeiten verschärfter Klassengegensätze stärker vom Reaktionären fundamentierter „Überbau der sozialen Gegebenheiten“ sei, der in den extremsten Unterdrückungsregimes auch vollständig „abgebrochen“ oder „eingerissen“ werden konnte. Der NS-Staat, mit dem es Irmgard Litten nun zu tun hatte, war das in jeder Hinsicht extremste Unterdrückungsregime; in ihm verlor ein im Liberal-Bürgerlichen verhaftetes „Recht“, das idealtypisch möglichst alle, von allen Mitgliedern einer Gesellschaft einzuhaltenden Regeln zur „Konfliktverhütung und -lösung“ umfasst und dadurch ein friedliches Miteinander zumindest „auf dem Papier“ ermöglicht oder ermöglichen sollte, seine rekursive Gültigkeit. Das führte umgehend dazu, dass politische Gefangene „gemacht“ wurden, denen weder ein „Rechts“-Beistand akkomodiert noch eine (individuelle) Straftat zugeordnet noch ein (faires) Gerichtsurteil in Aussicht gestellt werden musste: In „Schutzhaft“ genommen sollte irgendein Geständnis aus ihnen herausgeprügelt, herausgefoltert werden, um dann noch reine Schauprozesse mit den Fast-Totgeschlagenen veranstalten zu können. Wo selbst dies nicht mehr funktionierte, also selbst für die niveau- und würdelose Aufführung eines Schauprozesses nichts Substanzielles oder individuell Vorwerfbares übriggeblieben war, wurden aus den sowieso lebensbedrohlichen Folterungen, die nach außen häufig mit „Verhören“ euphemisiert wurden, oftmals gerichtsurteilsferne, extrajustizielle Hinrichtungen.

Ein bekanntes Beispiel hierfür ist die niederschmetternde Geschichte Erich Mühsams, der wie Litten in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet und dann am 10. Juli 1934 im KZ Oranienburg ermordet worden war - von der fanatischen SS-Wachmannschaft. So hätte es gleich in den ersten Monaten auch Litten ergehen können (die Mörder Mühsams hatten sogar das Gerücht streuen lassen: „So, der Kerl [d.i. Mühsam] ist fertig. Jetzt kommt das Schwein, der Litten, dran!“); und Irmgard verfolgte selbstverständlich auch immer die ebenfalls katastrophalen Hafterfahrungen anderer politischer Gefangener. (Zenzl Mühsam hatte einmal berichtet, dass bei einem „Transport von Schutzhäftlingen vom Bahnhof nach dem Lager Sonnenburg“ die dorthin Verschleppten „von den Wachmannschaften mit Gummiknüppeln und Fußtritten vorwärts getrieben“ und schließlich von der herbeistürmenden SA halb totgeschlagen worden seien; laut Zenzl wurden sie mit den „Nagelstiefeln so betrampelt, dass sie sich kaum weiterschleppen konnten. Caspar [d.i. Wilhelm Kasper (KPD)], Litten, Mühsam und Ossietzky wurden am schlimmsten misshandelt“.)

Jedenfalls begann sie nun, alles Erdenkliche zu unternehmen, um ihren Sohn wieder lebend aus den jeweiligen Nazi-Folterhöllen, in die er nun geraten war, herausholen zu können. (Folgende, chronologisch geordnete Stationen Littens konnten nachgewiesen werden: Nach seiner Festnahme zunächst kurz in einer SA-Kaserne, wurde er ins Gefängnis Spandau verbracht; von dort ging es ins KZ Sonnenburg; von dort aus wurde er wieder, aber sehr kurz nach Spandau zurückverlegt; kam dann mit sehr schweren Verletzungen ins Moabiter Krankenhaus, um von da aus ab Oktober 1933 im KZ Brandenburg an der Havel seine Haft verbringen zu müssen; Anfang Februar 1934 folgte das „Moorlager“ Esterwegen im Emsland, um schließlich ab dem 7. Juni 1934 vom KZ Lichtenburg „abgelöst“ zu werden; im September 1937 kam er noch kurz in das neu entstandene KZ Buchenwald; Endstation war dann Ende 1937/Anfang 1938 das KZ Dachau) Dabei bediente sie sich des gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts, das sie und ihr Mann sich von Königsberg aus aufgebaut hatten - der habilitierte Jurist Fritz Litten, ein früh zum Protestantismus konvertierter Sohn des Vorstehers der Jüdischen Gemeinde, war hier sogar Rektor der Albertus-Universität geworden. Und da er politisch eher als stramm national-konservativ, in den Traditionen des Kaiserreichs verharrend, DVP-wählend eingestuft werden musste, reichten die Beziehungen der Littens bis weit ins rechte Lager der Weimarer Republik hinein. Das wollte sich Irmgard nun zu Nutze machen - als Mutter, die sich nie „für Politik“, sondern ausschließlich für Kunstgeschichte interessiert habe. Sie ging davon aus, dass mit den Hafterfahrungsschilderungen ihres Sohnes konfrontierte national gesinnte, erzkonservative, reaktionäre Politiker*innen, Kulturschaffende, Amtsträger*innen dort „ein gutes Wort“ für ihn einlegen würden, wo ein Beenden dieses Grauens substanziell in die Wege geleitet werden konnte. (Sie selbst nennt dies: „Mobilmachung all meiner Beziehungen“) An diesen Stellen fragt mensch sich dann immer wieder, woher sie die Hoffnung nahm, sich auf dieser Schiene ihres Erachtens erfolgversprechend nach vorne zu bewegen. Denn sie vergegenwärtigte ja, dass der „Allererste Mann im NS-Staat“, der über alles informiert zu werden hatte und die Konstanz oder Permanenz der vollständigen Kampfunfähigkeit „seiner“ politischen Gefangenen intensiv überwachte, nicht dazu zu bewegen war, jemanden wie Hans Litten wieder freizulassen, zu begnadigen. Schlimmer noch, womit wir wieder bei den verbalen Eruptionen Hitlers vom Anfang des Textes wären: Der „Führer“ wollte als gesichert wissen, dass „niemand irgendetwas erreichen“ könne für diesen „Anwalt des Proletariats“ - schon gar nicht dessen Begnadigung. (Den Gestapo-Personalakten Littens lag ein Bild bei, das „meinen Sohn als Verteidiger, Hitler als Zeugen vor Gericht einander gegenüberstehend zeigte“.) Irmgard spricht sogar von einer „Liste“, die es wohl gegeben haben mag im NS-Staat, auf der die Namen jener Gefangener standen, die unter keinen Umständen wieder freikommen durften; das waren die zum Lebendig-Begrabensein Verdammten, mit denen „nichts ohne Genehmigung des Führers unternommen werden“ durfte. Hans Achim Litten gehörte zu ihnen.

Und trotzdem erhoffte sich Irmgard Vieles von ihrem Kampf für diesen einen, ihr am Allernächsten stehenden politischen Gefangenen, der für sie ein „Weltwunder an Gelehrsamkeit“ darstellte. So wie ihr geht es heute noch vielen Menschen auf der ganzen Welt, die sich mit politischen, ins Visier von Repressionsbehörden geratenen Gefangenen solidarisieren und sich unablässig, hartnäckig für sie einsetzen - obwohl sie, umgeben von unmenschlichen, lebensvernichtenden, ungerechten, versklavenden Verhältnissen, zu registrieren haben, dass das herrschende System um sie herum das kalkulierte Verreckenlassen von in die Knäste Gesteckten staatlich sanktioniert, innerhalb des Apparats also keine „Besserung“ erwirkt werden kann. Ich denke, Irmgard hatte ein durchaus ambiges Verhältnis zu ihren eigenen Ambitionen hinsichtlich des auch für sie bedrohlicher und bedrohlicher werdenden Kampfes für und um Hans. Sie war ja über die Jahre hinweg mit ihrer „Sache“ an die höchsten Repräsentanten des Dritten Reiches herangekommen - selbst an den Reichsjustizminister Gürtner, selbst an den Präsidenten des Volksgerichtshofes Freisler, selbst an Himmler, selbst an Göring, dessen Ehefrau Emmy sie noch aus deren Zeit als Theaterschauspielerin kannte -, aber erreicht hatte sie damit gar nichts, nie etwas. (Im Gegenteil: Göring beispielsweise soll Emmy gegenüber abschließend zum Ausdruck gebracht haben: „Wenn du mir dauernd mit Litten in den Ohren liegst, werde ich überhaupt nicht mehr mit dir zusammen sein!“) Auch alle ihre Gnadengesuche wurden mit der immergleichen Begründung abgelehnt: „Ihr Sohn [ist] ein bedeutender Kopf und daher ein gefährlicher Gegner. Er würde gegen uns arbeiten, wenn er freigelassen würde.“ (Der Adjutant Himmlers hat ihr sogar folgende Worte an den Kopf geworfen: „In diesem Falle ist selbst der gute Papa Hindenburg machtlos.“)

Erfolgreicher war sie dann - über Umwege - schon eher mit dem koordinierten Erzeugen diplomatischen Drucks auf allerhöchstem Niveau - sie nennt es: „Entrüstung des Auslands“. Und weiter: „Darüber, dass [das Dritte Reich seine] Häftlinge [in den] Lager[n] langsam zu Tode marter[t], empört sich die ganze zivilisierte Welt.“ (Hier wird im Übrigen der Antagonismus zwischen faschistischer Barbarei und Zivilisation sehr eindringlich zur Geltung gebracht; der Deutsche Faschismus stelle den bewussten, irreversiblen Bruch mit der Zivilisation dar, die nur noch außerhalb seines Zugriffsbereichs gefunden werden könne.) Über diverse Kontaktstellen und -personen in Prag, in den Niederlanden und in der Schweiz, die immer wieder von ihr, ihrem Sohn Heinz oder Margot Fürst (auch auf illegalisiertem, gefährlichem Wege) aufgesucht und mit den jeweils neuesten Informationen „gefüttert“ worden waren, konnte Aufmerksamkeit evoziert werden, die schließlich auch in großen englischen Zeitungen ihren äußerst öffentlichkeitswirksamen Niederschlag fand. Von England aus wurde denn auch am 31. Oktober 1935 eine der spektakulärsten, wuchtigsten Aktionen für die umgehende Freilassung Hans Littens umgesetzt: Reginald Clifford Allen, 1st Baron Allen of Hurtwood, besser bekannt unter dem Namen Lord Allen (von der sozialistischen Independent Labour Party), machte an diesem Tag eine als Protestnote zu rubrizierende „Eingabe“ - direkt bei Hitler. In dieser von mehr als 100 angesehenen Jurist*innen Englands unterzeichneten „Eingabe“ wurde darum „gebeten“, das schwerverletzte, nachhaltig traumatisierte Folteropfer Hans Litten unverzüglich freizulassen; zum einen sei er entlang objektiver juristischer Maßstäbe, die sich rechtsstaatlich arithmetisiert an konkreten, überprüfbaren, zuzuordnenden Tatnachweisen auszurichten haben, „völlig unschuldig“; zum anderen sei es nicht hinnehmbar, dass ein namhafter Rechtsanwalt dazu gezwungen werden sollte, sein in der Weimarer Republik verbrieftes Berufsgeheimnis zu verraten. Dabei spielten die Verfasser*innen des Appells auf den skandalösen Umstand an, dass die „Rechtsnachfolger*innen“ der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland ein Wiederaufnahmeverfahren des so genannten Felseneck-Prozesses in die Wege geleitet hatten, um sich endlich an Litten rächen zu können. Nach einem bewaffneten Überfall von etwa 150 Sturmbannmännern der Berliner SA auf die im Norden Berlins liegende Laubenkolonie „Felseneck“, bei dem in der Nacht vom 18. auf den 19. Januar 1932 ein „Kolonist“ erschossen worden und ein SAler (höchstwahrscheinlich durch „Friendly Fire“) ums Leben gekommen war („im Handgemenge getötet“), hatte Litten - im Rahmen seines aufwändigen Rund-um-die-Uhr-Engagements für die Rote Hilfe Deutschlands, die die Versäumnisse der Voruntersuchung und die gefälschten Beweise der Polizei und des Untersuchungsrichters lückenlos aufdecken lassen wollte -, 18 der insgesamt 19 angeklagten Bewohner des „Felsenecks“ vertreten, die durch ihren Einsatz ein schlimmes Massaker verhindert hatten (von den 150 SAlern waren lediglich fünf angeklagt worden). Ihnen wurde der angebliche Mord an dem Faschisten vorgeworfen. „Auf Littens Initiative wurde [sogar] eine Sonderzeitung zum Felseneck-Prozess mit dem Namen Attacke herausgegeben.“ (Nikolaus Brauns)

„Zwei Tage vor Weihnachten 1932 wurde das Verfahren (...) gegen alle Angeklagten eingestellt; nur zwei Arbeiter der Kolonie wurden wegen Diebstahls zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt (…). Es war Littens letzter Prozess. Seine Konzessionslosigkeit, aber auch seine Intelligenz und forensischen Fähigkeiten hatten ihn zum wohl gefürchtetsten und meist attackierten Anwalt gemacht.“ (Norman Paech) In Spandau wurde Litten so lange und so heftig gefoltert, dass er unter lebensbedrohlichem Zwang und unter erpresserischer Androhung weiterer „Verhöre“ schließlich „aussagte“, im „Felseneck“-Prozess wissentlich einen Mann verteidigt zu haben, der einen SAler erschossen habe. (Irmgard hierzu: „Am anderen Morgen [nach dem „Verhör“] war in sämtlichen Zeitungen ein Bericht unter einer besonders großen Überschrift: »Hans Litten gesteht Mitwisserschaft an einem Mord«.“) Um diese barbarische Zerschmetterung des sakrosankten rechtsanwaltlichen Berufsgeheimnisses nicht als legitim, als „ergebniserfolgreich“ dastehen zu lassen, schrieb der total verstörte, körperlich schwer zugerichtete Hans kurz darauf einen Bericht an die Gestapo, „dass er unter Zwang ausgesagt habe, dass nicht eine der Aussagen der Wahrheit entspräche, und dass er jede Aussage widerriefe“. Und weiter: „Da er die ihm angedrohten Folgen dieses Widerrufes fürchte, so nähme er sich das Leben.“ Das wäre ihm dann auch tatsächlich gelungen, wenn nicht ein Mithäftling, der zufällig Arzt war, ihn wieder ins Leben „zurückgeholt“ hätte - obwohl er schon fast vollständig ausgeblutet auf dem Boden seiner eigenen Zelle lag.

Der englische Appell jedenfalls muss im NS-Apparat solch hohe Wellen geschlagen haben, dass einer der späteren Hauptkriegsverbrecher, Ullrich Friedrich Willy Joachim von Ribbentrop, genötigt wurde, Lord Allen direkt und ausführlich zu antworten. Wir müssen Irmgard dankbar sein, dass sie dieses von Hitlers Reichskanzlei in Auftrag gegebene, am 16. Dezember 1935 verschickte Schreiben Ribbentrops komplett und unkommentiert abgedruckt hat, obwohl es ein abscheuerregendes Produkt selbstlegitimatorischer Ideologem-Aneinanderreihung darstellt, das den hohen, eigentlich unerreichbaren Verblendungsgrad anzeigt, unter dem im deutsch-faschistischen Staatsgebilde „Politik“ exekutiert wurde. Es bildet die Schlüsselstelle in Irmgards Berichts, wenn es darum geht, als Rezipient*in eine komprimierte Zusammenfassung an die Hand gegeben zu bekommen, die das nazistische Terrorsystem (und seinen kompromisslosen Umgang mit „seinen“ politischen Gefangenen) in eigenen Worten entlarvt. Worte freilich, die sich einzusaugen beinahe schon körperliche Qualen bedeuten. Andererseits sind sie - für Faschismen davor, währenddessen und danach - von solcher Allgemeingültigkeit, Universalität, Normativität, dass sie auch heute noch - in modifizierter, aktualisierter, kontextkalibrierter Form - benutzt werden können von jenen, die nach wie vor Staaten und Gesellschaften von Grund auf faschisieren wollen.

Nach dem Ribbentropschen Schreiben merkt Irmgard nur noch zwei Sachen an: Zum einen habe sie in „einer Eingabe an Ribbentrop (…) Satz für Satz seiner unsinnigen Behauptungen“ widerlegt; zum anderen war ihr spätestens jetzt klar, dass sie [die Faschisten] die Absicht hatten, „meinen Sohn lebenslänglich gefangenzuhalten“. Es gehört zu den faszinierenden Facetten des Berichts, dass Irmgard in kurzen Nebensätzen die „Entschlüsselung“ der nazistischen Gesinnung als gesetzt reklamiert, ohne dies dann noch ellenlang ausbreiten zu müssen: Hier fasst sie in ihrem abbrechenden Hinweis auf die „Satz-für-Satz-Widerlegung“ der „unsinnigen Behauptungen“ Ribbentrops zusammen, worauf der NS-Staat gebaut wurde: auf extrem wirkmächtig gewordenen, annihilationsexzessiv materialisierten Lügen, auf wissenschaftlich Widerlegbarem, auf monströsen Verschwörungsnarrativen, auf negativer Vergesellschaftung, auf völkischem Chauvinismus, auf weltunterjochendem Imperialismus, auf fataler Misogynie, auf ariosophisch-manichäischer Mythologisierung, auf dem „Un-Sinn“.

Ribbentrop gibt zunächst - an die „englischen Rechtsfreunde“ gerichtet - zum Besten, dass der Kommunist Hans Litten wegen „staatsfeindlicher Betätigung inhaftiert“ worden sei und „seine geistige Einstellung (…) eine Enthaftung unter diesen gegebenen Umständen nicht“ zulasse. Dann amalgamiert er in erschütternd transparenter Manier nazistisches Regierungs- und Rechtssystem: Selbstzweckfunktion dieses „aufeinandergefallenen“ oder „ineinandergefallenen“ Gleichschaltungs-Systems sei die möglichst rabiate, möglichst brachiale Verhinderung des von Kommunist*innen bewirkten Sturzes des ganzen deutschen Volkes ins Unglück, „an den Rand des Abgrundes“. Litten wird zu einem „unverbesserlichen Träger und geistigen Führer“ eines solchen „Volksvernichtungswillens“ gemacht, zu einem evidenten „Schädling der menschlichen Gesellschaft“; sein „Tätigkeitsfeld“ müsse „beschränkt“ werden; mit „eiserner Konsequenz“ und „Härte“ müssten die „Träger (des) schleichenden und zersetzenden kommunistischen Giftes in Deutschland isoliert“, also mit allen Mitteln vom gestählten, gepanzerten „Volkskörper“ ferngehalten werden. In diesem organizistisch-biologistischen, rassen- und euthanasiepolitisch durchdrungenen Verständnis von „Volk“, das Ribbentrop wiederkäut, war Litten ein politischer Gefangener, der an von der Welt abgeschiedenen, uneinsehbaren, zivilgesellschaftlich undurchdringbaren, sozial entsicherten, panoptikonisch strukturierten, lückenlos überwachten, verlorenen Orten im eigentlichen Wortsinne „unschädlich“ gemacht werden sollte. Er war nämlich - draußen in „Freiheit“, draußen als energischer Ankläger, als kompromissloser Vorsitzender politischer, staatsunabhängiger Tribunale, als Initiator von hunderttausendfach aufgelegten Rote-Hilfe-Broschüren gegen Weimarer Polizeigewalt und faschistischen Straßenterror - „schädlich“ für diesen in einem Guss zusammenzuschweißenden, homogenisierten „Volkskörper“, der das „Deutsche Reich“ fortan zu sein hatte oder werden sollte. Er sollte für alle Zeiten kampfunfähig gemacht werden: und in der faschistischen Ideologie, die sich nun vollkommen im Staat ausgedehnt hatte, die Staat wurde, hieß das, dass er liquidiert, jedenfalls aus der Welt geschafft werden müsse. Dies sei nur eine Frage der Zeit ...

Dann präsentiert er seinen in Pathos ertränkten Stolz auf die „in der Geschichte des deutschen Volkes größte geistige Revolution, die zu der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus am 30. Januar 1933 führte“, und die „unter dem Zeichen völliger Legalität vor sich gegangen“ sei. (Aus diesen propagandistischen Ausführungen sollten Antifaschist*innen den unverrückbaren Schluss ziehen, dass den Nazis die komplette staatliche Macht übertragen wurde; welche*r in diesem Kontext (auf)wertend und realitätswendend von „Machtergreifung“ oder gar „Revolution“ spricht, übernimmt das verblendungszusammenhangsentfesselnde Romantisieren der Menschheitsverbrecher*innen, die sich dann in concreto am weitesten von bürgerlich konnotierter „Legalität“ entfernt hätten.)

Dann führt er aus, dass das „Dritte Reich“ keinen solchen Fehler mehr machen werde wie bei Georgi Dimitroff, einem der Hauptangeklagten im Reichstagsbrandschauprozess (in dessen willkürlich zusammengewürfeltem „Ermittlungszusammenhang“ ja auch Litten ursprünglich in Schutzhaft genommen worden war): Dieser sei auf internationalen Druck hin freigelassen worden, obwohl laut Ribbentrop vorherzusehen war, dass er im Anschluss als „wahrer Führer der Komintern“ zu einem der „eingefleischtesten Kommunisten und verschworensten Terroristen“ werden würde, der Propaganda, Terror und Gewalt verbreiten würde; auch im von Lord Allen repräsentierten „britischen Imperium“. Litten könne also nicht oder besser: niemals mit einer „Enthaftung“ rechnen; in „Freiheit“ wäre solch ein „Volksvernichter“ viel zu gefährlich für den wehrhaften „Führer-Staat“, der hier in Vertretung Ribbentrops „spricht“.

Und so war es denn auch: Die „Enthaftung“ Littens konnte weder:

a) unter Einflussnahme auf das „Innere“, die „harten Kerne“ des NS-staatlichen Machtapparats zur konkreten Anordnung gebracht noch

b) unter Erzeugung internationalen beziehungsweise hochkarätigen diplomatischen Drucks auf das deutsch-faschistische Terrorregime erreicht werden.

Auch das Begehen eines dritten Weges war schon in Ansätzen zum Scheitern verurteilt gewesen, weil sich zwei Gestapo-Spitzel „eingeklinkt“ hatten: Margot Fürst, ihr Mann und andere Nazi-Gegner*innen wollten Hans aus dem KZ Brandenburg an der Havel befreien, ihn „herausholen“. Bereits weit vor dem anvisierten „Tag der Entführung“ wurden die Fürsts festgenommen, ohne überhaupt in die Nähe Brandenburgs gekommen zu sein; Max Fürst wurde nach zwei brutalen Gestapo-Verhören, bei denen nichts Substanzielles, nur Widersprüchliches aus ihm herausgebrügelt werden konnte („man sah, dass er tatsächlich so gut wie unbeteiligt war“), für mehrere Monate ins Lager Oranienburg gesteckt; Margot Fürst, die der Gestapo gegenüber überzeugend vermitteln konnte, dass alles Befreiungs-Relevante ausschließlich von ihr ausgegangen sei und alle anderen „Beteiligten“ nicht (über die „Einzelheiten“) Bescheid wussten, kam zwar in länger angesetzte Haft, fiel aber bereits im August 1934 unter so genannte „nationalsozialistische Straffreiheitsbestimmungen“, die bei Irmgard zur letzten „Hindenburg-Amnestie“ werden (Hindenburg ist am 2. August 1934 gestorben). Die nun „auf Schritt und Tritt bedroht[en] und verfolgt[en]“ Fürsts verließen schließlich mit ihren Kindern Deutschland. Irmgard, die „auf dem Standpunkt [stand], (…) niemals etwas mit illegalen Dingen zu tun haben“ zu dürfen, hatte rein gar nichts von einem Befreiungsversuch gewusst, auch wenn viele ihrer an die Fürsts weitergegebenen, authentischen Informationen aus den Lagern gewinnbringend in die Befreiungspläne implementiert wurden.

Abgesehen davon, dass Hans Litten selbst nach dem bereits in Ansätzen gescheiterten Befreiungsversuch „drei Wochen lang (…) in strengster Isolierung im Bunker festgehalten“ wurde, musste er bei den „Verhören“ danach den Kode preisgeben, auf den sich er, seine Mutter und die Fürsts fürs Dechiffrieren vermeintlich oberflächlicher, „unbedarfter“ Briefnachrichten-Korrespondenz zwischen drinnen und draußen geeinigt hatten (im Littenschen Chiffrierungsfalle fungierte das Nomen „Denkmalsfigur“, das in Kreuzworträtseln zur sechs-buchstabigen „Statue“ wird, als Schlüsselwort; „jeder Buchstabe der Botschaft [wurde] durch den Buchstaben ersetzt“, der in jenem zentralen Referenzbegriff darauf folgte): Nur so konnte er belegen, dass er „von dem Entführungsplan [der Fürsts] zwar gewusst, ihn aber weder angenommen noch abgelehnt habe“, also „passiv“ geblieben sei. Nach diesem „Vorfall“ hat es lange gedauert, bis Irmgard ihren Sohn wieder besuchen durfte …

Jedenfalls konnte Irmgard die auf fünf Jahre ausgedehnte Ermordung ihres Sohnes nicht verhindern, obwohl sie ihr eigenes Leben für dessen Freilassung gegeben hätte. Ihr unermüdlicher Kampf konnte nicht verhindern, dass sie am 6. März 1938 in die „Leichenhalle“ des KZs Dachau geführt wurde, in die der tote Hans hineingelegt worden war. Auch ihre Hoffnung (auf Freilassung Hansens) starb zwar zuletzt, aber dennoch war sie gestorben. Und mit ihr die andere Hoffnung, weiterhin im auf den Zweiten Weltkrieg zusteuernden Deutschen Reich ansässig bleiben zu können: Die Litten-Familie emigrierte nach der Ermordung des ältesten Sohnes nach Großbritannien.

Vielleicht hat sich Irmgard deshalb nie mit der Kollektivschuldthese anfreunden können, weil sie zwar eine vollständiger und vollständiger werdende, gesellschaftlich aktiv mitgetragene Durchdringung aller Lebensbereiche mit deutsch-faschistischer Theorie, Terrorpraxis, Ideologie, Mystik, Gewaltförmigkeit, Massenpsychologie, Verblendung, Propaganda in direkter Auseinandersetzung mit dem Zuchthaus-, Zwangsarbeits-, Gefängnis- und Lagersystem nachvollziehen und nachzeichnen konnte, aber immer auch mit sehr vielen Menschen zu tun hatte, die innerhalb der Reichsgrenzen effektiv Widerstand gegen die fanatisch und gewaltexzessiv und eliminatorisch wütende Nazi-Barbarei geleistet haben. Einen Grad von Widerstand, der - vernünftig betrachtet - verunmöglicht, diesen antifaschistischen Widerstandskämpfer*innen eine Mitverantwortung an der singulären Menschheitsverbrechensverwaltung zuschreiben zu können. Und hier zieht Irmgard eine klare Linie zu all jenen, die anscheinend nichts gewusst haben, die nichts mitgekriegt haben, die bewusst weggeschaut haben, wenn festgenommen oder deportiert wurde, die sich „gelegenheitsnutzend“ an für sie lukrativen „Arisierungsmaßnahmen“ beteiligt haben, die zufällig denunziert haben, wenn sie zufällig etwas gesehen haben, die „mitgespielt“ haben, um nachher fragen zu können: „Was hätte ich denn machen sollen; sie hätten mich doch umgebracht?“ Oder noch besser: Die „nur“ Befehle ausgeführt haben, die nun einmal getroffen wurden in einem völkerrechtlich anerkannten, aber aktiv aus dem Völkerbund ausgetretenen Staatsgefüge. All jene (und das sind eben die meisten) sind selbstverständlich schuld an der lange zwölf Jahre andauernden, in die Reibungslosigkeit transformierten Funktionsweise des gezielt an die Macht gehievten NS-Apparats.

Irmgards damalige Wohnung hatte sich im Übrigen zu einem allgemein anerkannten „Umschlagplatz“ der Informationsweitergabe entwickelt: Die meisten der Ex-Häftlinge, die Hans während seiner fünfjährigen Odyssee kennengelernt oder etwas von ihm „mitgekriegt“ hatten, besuchten seine Mutter (unter hohem persönlichem Risiko), um ihr ausführlich und ungeschönt die Zustände in den Nazi-Folterhöllen darzulegen. Auch deshalb ist aus ihrem Bericht „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“ eine erschütternde Dokumentation geworden, bei der sie authentische Schilderungen von unmenschlicher Ausbeutung, von Bestrafung, von bestialischer Misshandlung, von Psychoterror, von Folter, von Hinrichtungen schonungslos in allen Einzelheiten darlegt und in Beziehung setzt zu dem, was ihrem Sohn, der viel Zeit in Einzelhaft verbringen musste, entweder selbst widerfahren ist oder was er sich ansehen oder anhören musste. Und indem Irmgard das so schonungslos veranschaulicht, macht sie unmissverständlich deutlich, dass es dem Deutschen Faschismus als terroristischem Machtorgan immer nur um die Annihilation des „Volksschädlingshaften“ gegangen sei. Es ist noch nicht einmal die erschütterndste Stelle im Buch, aber sie zeigt in fast schon plastischer Weise an, wo der Weg eines offensiven Nazi-Gegners zwischen 1933 und 1945 enden sollte - in seiner staatlich sanktionierten Liquidation: Alle Neuankömmlinge in Brandenburg an der Havel „wurden schwer misshandelt. Außerdem durften sie sich in der Zelle nicht beschäftigen, durften nicht lesen, hatten keine Beleuchtung, sodass es vom Nachmittag an bis zum Morgen stockfinster war. Sie bekamen keinen Tropfen Wasser, weder zum Trinken noch zum Waschen. Sie durften sich nicht rasieren. Man wollte, dass diese politischen Häftlinge möglichst verkommen aussahen, um sich selbst auch möglichst verkommen zu fühlen. Die Gefangenen (…) mussten in rasendem Tempo über die Höfe rennen. Wer zurückblieb, wurde angebrüllt, geschlagen, getreten. Der dreckigste Hof wurde zum Exerzieren ausgesucht, auf und nieder, auf und nieder; man musste sich in die Pfützen werfen, durch meterlange Pfützen kriechen, in Pfützen Liegestütz machen. Alles bis zur Bewusstlosigkeit. (…) Die übrige Zeit war man untätig in die Zelle eingeschlossen. Hans aber hatte [auch hier] keine Ruhe, dauernd noch Verhöre ...“

Als wir im Jahre 2005 in Göttingen das Hans-Litten-Archiv gegründet haben, gab es keine Diskussion darüber, nach wem es benannt werden würde: „Der Namensgeber des Archivs … war [nicht nur] einer der bekanntesten Rechtsanwälte der Roten Hilfe Deutschlands in der Weimarer Republik“, sondern über seine renommierte Stellung als solidarischer Strafverteidiger hinaus auch ein politischer, nicht parteiförmig organisierter, im besten Sinne strömungsübergreifend wirkender Aktivist, der sich an der Seite der Arbeiter*innenbewegung am emanzipatorischen Kampf gegen staatliche Unterdrückung, Ausbeutung, Verfolgung, Repression beteiligt hat. Er wollte verhindern, dass sich die reaktionärsten Teile des Weimarer Staatsapparates im Krisenbewältigungsmodus in eine Position brächten, von der aus sie den massenbewegten Faschismus erfolgreich an die Zentren der Macht bugsieren könnten. Gelungen ist ihm dies nicht; und für die nazistischen „Krisenbewältiger*innen“ oder „Krisenlöser*innen“, für die nunmehr gesamtstaatlich legitimierten „Kämpfer*innen gegen den Marxismus“ bedeutete dies, ihn der Vergessenheit anheimfallen zu lassen, ihn zu töten, weil er vergessen, weil sich niemand mehr an ihn erinnern können wird. Und das ist ihnen nicht gelungen.

Auch wenn solche Kämpfe, wie sie der unvergessliche Hans Litten geführt hat, im extremsten, im absoluten Falle mit dem Tod der darin und dabei Engagierten enden können; es gibt keine Alternative dazu, sie zu führen. Und zwar genau so, wie sie Hans Litten geführt hat, wie er sie weiterhin geführt hätte, wäre seinen Mördern nicht die gesamtstaatliche Macht (zur grenzenlosen Willkür) überantwortet worden.

Wir aber leben noch, wir sind noch in der Lage, seine emanzipatorischen Kämpfe, die am 30. Januar 1933 ein jähes Ende fanden, hier und jetzt und modifiziert fortzusetzen, indem wir zusammen dafür sorgen, dass sich die so genannte Demokratie als eine verdichtete Form bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft, die es revolutionär zu überwinden gilt, niemals mehr für den offen terroristischen Faschismus wird entscheiden können. Das sind wir Hans Litten schuldig. Deshalb werden im Hans-Litten-Archiv nicht nur „Materialien der Roten Hilfe und anderer linker Antirepressionsgruppen sowie Dokumente zur Geschichte der politischen Justiz und der Verfolgung vom Ende des Ersten Weltkrieges über die NS-Zeit, der Verfolgung von Kommunist*innen unter Adenauer und der Berufsverbote der 1970er Jahre bis zur Gegenwart“ gesammelt, sondern auch „Dokumente über den Widerstand gegen die Verfolgung der radikalen Linken, der sozialen Bewegungen und der Arbeiter*innenbewegung durch Polizei und Justiz seit der Wiedergründung der Roten Hilfe Mitte der 1970er Jahre gelagert“. Denn nur, wenn wir uns historisch des Wissens bemächtigen, wie und weshalb und mit welchen Folgen sich eine Demokratie in den totalen, den repressivsten, den herrenmenschentümelndsten Faschismus hinein involutionieren konnte, können wir im Hier und Jetzt radikale entnazifizierende Maßnahmen ergreifen, die eine Wiederholung von 33 von vornherein zu unterbinden in der Lage sind. Aber eben auch, wie weit staatliche Repression und das systematische Kampfunfähigmachen der an grundlegender Veränderung Interessierten dort gehen können, wo gegenwärtig von einer stabilen beziehungsweise wehrhaften „freiheitlichen demokratischen Grundordnung“ geraunt wird. Das Hans-Litten-Archiv hilft uns bei dieser Bemächtigung. Es ist der am 13. Juni 2005 als gemeinnützig anerkannte „Verein zur Errichtung und Förderung eines Archivs der Solidaritätsorganisationen der Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung und der sozialen Bewegungen (Rote-Hilfe-Archiv) e.V.“

[Alle nicht gekennzeichneten Zitate im Text sind dem Buch entnommen: Irmgard Litten: „Eine Mutter kämpft gegen Hitler“, Deutscher Anwaltverlag, Bonn, 2000 (Lizenzausgabe des Röderberg-Verlags)]

 

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