Im September 2016 wurde die „Schriftenreihe des Hans-Litten-Archivs zur Geschichte der Roten Hilfe“ mit Silke Makowskis „Helft den Gefangenen in Hitlers Kerkern“ eröffnet. Nun hat es nochmals mehr als fünfeinhalb Jahre gedauert, bis wir als Hans-Litten-Archiv e. V. (HLA) den zweiten Band edieren konnten: In Markus Mohrs umfangreicher, präziser Arbeit „Lesen – Weitergeben – Diskutieren – Weitergehen!“ werden „die Roten Hilfen als Teil der Fundamentalopposition in Westdeutschland im Spiegel ihrer Flugblätter in den Jahren 1969 – 1975“ beschrieben. Die Texte werden flankiert von unzähligen Abbildungen dieses Materials aus den 1960er- und 1970er-Jahren, das – in wertvollen Originalen vorliegend – hierfür intensiv analysiert wurde.
Wir sind Markus sehr dankbar, dass er sich auf solch hohem Niveau unserer sozialgeschichtlichen Aufgabe gestellt hat: die ehedem geführten Kämpfe gegen unzumutbare Verwerfungen gesellschaftlicher Zustände zu erforschen und mit diesem Band zugänglich zu machen. Auf diese Weise wird es möglich, sich die früheren Proteste, Bewegungen und Erfahrungen in der Retrospektive anzueignen und plausibel erlebbar ins Jetzt zurückzuholen: Auf dieser les-, weitergeb- und diskutierbaren Hintergrundfolie können wir so weiter-, vielleicht sogar über die derzeitigen Verhältnisse hinausgehen.
Die Bedeutung, die solch eine detaillierte Aufarbeitung hat, ist nicht zu überschätzen. Nur so lässt sich verstehen, warum es historisch notwendig war, wie sich die fundamentaloppositionellen Roten Hilfen Westdeutschlands (BRD), die aus den 68er-Kämpfen entstanden waren, veränderten: Aus ihrer damals vehement postulierten Unterschiedlichkeit heraus entwickelten sie sich zu dem, was die Rote Hilfe e. V. zurzeit darstellt – eine „parteiunabhängige strömungsübergreifende linke Schutz- und Solidaritätsorganisation“ mit mehr als 14.000 Mitgliedern.
Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre gab es noch keine Informationstechnologie, die es ermöglicht hätte, rasend schnell dissidente Positionen grenzenlos zu streuen oder unmenschliche Repressionsmaßnahmen zu entlarven und zu skandalisieren. Was es aber gab, waren Flugblätter!
Deshalb ist es bedeutsam, sich – wie im nun vorliegenden Konvolut – dieser „Flug-Schriften“ anzunehmen, die laut der Definition in Grimms Wörterbuch von 1854 „auf augenblickliche Wirkung berechnet“ wurden und „meist propagandistisch … abgefasst“ waren. Die nach der Student*innenrevolte der Jahre 1967/68 sich „in West-Berlin und Westdeutschland [ausbreitende] linke Fundamentalopposition … gewann in vielfältig organisatorischer Weise Gestalt; so auch in der Solidaritätsbewegung mit juristisch Verfolgten und Gefangenen“ (Markus Mohr); und eine ihrer bedeutendsten Gestaltungsformen – auch im Hinblick auf die (potenzielle) Ausweitung dieser sozialen Proteste – waren eben Flugblätter. Im Gegensatz zu gebundenen Büchern, die in zahllosen Bibliotheken verwahrt und zumindest antiquarisch noch erhältlich sind, sind Flugblätter nur für eine kurzzeitige, tagesaktuelle Nutzung gedacht. Übriggebliebene Restexemplare wurden von den Verfasser*innen oftmals weggeworfen, und es gab auch über Jahrzehnte hinweg keine linken Forscher*innen, die diese Quellengattung der Rote-Hilfe-Bewegung archiviert, kontextualisiert und (geschichtswissenschaftlich) korrekt „eingeordnet“ hätten. Entsprechend rar ist diese „graue Literatur“, die faszinierende Einblicke in den politischen Alltag der Solidaritätsaktivist*innen der 1970er Jahre gewährt. Zu den frühesten in der BRD verbreiteten Flugblättern mit RH-Bezug gehören jene der „Initiative für Genossenschutz zum Strafprozess gegen Horst Mahler“, mit denen dazu aufgerufen wurde, sich bei der noch aufzubauenden „Rote Hilfe-Organisation“ in „geeigneter Art und Weise politisch zu engagieren“.
Markus führt uns in seinem eröffnenden Kapitel „Flugblatt, auf augenblickliche Wirkung berechnet ...“ kenntnisreich durch die verschlungenen Pfade der ersten RH-Organisierungsansätze, beginnend bei den RH-Komitees, die von der parteimaoistisch ausgerichteten KPD/ Aufbauorganisation (AO) gegründet worden waren. Im Folgenden schildert er die über die Strukturen der bewegungsmaoistischen, „autonomen“ „Gruppe Proletarische Linke/Parteiinitiative“ laufenden Zusammenschlüsse namens RH_★, die es dann bald in West-Berlin, München, Hamburg und Frankfurt am Main geben sollte. Über das am Kommunistischen Bund orientierte Initiativkomitee Arbeiterhilfe (IKAH) geht Markus Mohr zu den ebenfalls „Rote Hilfe“ leistenden, leninistisch grundierten „Komitees gegen Folter“ weiter, die ihren Fokus sehr stark auf die Gefangenen aus der RAF gelegt hatten und diesbezüglich äußerst viele Flugblätter veröffentlichten. Anschließend nimmt er wieder Kurs auf die KPD/AO, die „unter dem Druck einer Verbotsdrohung durch die Bundesregierung“ von West-Berlin weg eine „nationale“, also BRD-weite RH e.V. aus der Taufe heben wollte. Den Abschluss findet dieser Überblick mit der KPD/ ML, die Ende Januar 1975 in Dortmund die Rote Hilfe Deutschlands bildete, aus der dann die heutige Rote Hilfe e.V. entstehen sollte. Was dann kommt, ist die auf sechs Kapitel verteilte Beantwortung der Fragen, wie sich dieser „komplexe Selbstorganisierungsprozess der westdeutschen Fundamentalopposition in ihren Flugblättern gespiegelt“ hat und was „die Themen der Roten Hilfe in ihren Flugblättern“ waren. Markus zieht nach der Sichtung von etwa 500 Flugblättern die Bilanz, dass die Roten Hilfen (bis 1975) zwar vornehmlich „die stets als unerträglich beschriebenen Maßnahmen der Polizei und der Justiz, kurz: die kontinuierliche Brandmarkung von etwas, was als Polizeiterror und Klassenjustiz skandalisiert werden solle“, thematisiert hätten. Zugleich beackerten sie inhaltlich durchaus auch Politikfelder, die weit über die zentralen Topoi antirepressiven Engagements hinausgehen, aber trotzdem aus ihrer Sicht untrennbar damit verbunden waren und deshalb in die Kämpfe miteinbezogen werden mussten – eben weil sie für die damaligen sozialen Bewegungen und deren Träger*innen von elementarer Bedeutung waren: Seien es die heftigen Auseinandersetzungen um (exorbitante) Mietkostenerhöhungen oder die ersten Hausbesetzungen, seien es die teilweise äußerst militant geführten Fahrpreiskämpfe oder die breit wiederaufflammenden Proteste gegen den bis heute nicht abgeschafften Paragraphen 218, seien es die Unterstützungen von ausländischen Arbeiter*innen, denen beispielsweise wegen ihrer Beteiligung an Streiks Ausweisung angedroht wurde, die zahllosen Berufsverbote quer durch alle Bevölkerungsschichten nach dem so genannten Radikalenerlass oder willkürliche Gewerkschaftsausschlüsse – gegen all dies mussten Rote Hilfen massiv in Stellung gebracht werden. Das war notwendig, weil in all diesen Bereichen staatliche Repression in unterschiedlichen Facetten einen besorgniserregenden oder gar angsteinflößenden Ausdruck fand und letztendlich Menschen, die sich für oder gegen etwas eingesetzt hatten, zur „Rechenschaft“ zog – unter Anwendung des ganzen Repertoires gewaltförmiger Disziplinierungsmethoden.
Und die gesichteten Flugblatt-Texte sind erstaunlich aktuell geblieben; ihnen ist oft nicht anzumerken, dass sie schon auf ein Alter von fast 50 Jahren zurückblicken. Wenn wir da lesen können, dass die „Rote Hilfe alle [unterstützt], die wegen ihres Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung vor die Schranken der Klassenjustiz gezerrt werden [und] dabei ... jeden politisch Verfolgten durch die Unterstützung in der politischen Prozessführung und durch juristische Hilfe“ bestärkt, dann ist das heute noch von Gültigkeit – und war es auch schon zu den Anfängen der Rote-Hilfe-Komitees ab 1921. Die Zeitlosigkeit vieler der geäußerten Forderungen und Prinzipien belegt, gerade im Angesicht des komplexen Selbstorganisierungsprozesses, der jahrzehntelang durchschritten werden musste, die Kontinuität, die von den Anfängen der Roten Hilfen Anfang der 1970er-Jahre zur derzeitigen strömungsübergreifenden Roten Hilfe e. V. führt.
Mit Markus Mohrs fundierter Untersuchung, die einen von Turbulenzen geprägten Zeitraum von etwa sechs Jahren abdeckt, lässt sich dies hervorragend nachzeichnen. Sie weckt damit ein konturierteres Verständnis der mannigfaltigen Vorgänge, aus denen heraus sich die sehr unterschiedlich ausgerichteten Roten Hilfen zu einer gemeinsamen wachsenden Schutz- und Solidaritätsorganisation zusammengefunden haben. Die Entwicklung wird eindrücklich veranschaulicht anhand von Flugblättern, die verschiedenen Zielsetzungen dienten: Sie mobilisierten, sie agitierten, sie stärkten die radikal linken Strukturen, die mit überbordender staatlicher Repression konfrontiert waren; sie schufen Gegenöffentlichkeit. Sie wurden gelesen, weitergegeben, diskutiert – um danach weiterzugehen. Lasst uns zusammen weitergehen!
Michael Dandl, Vorstand Hans-Litten-Archiv e. V. im Dezember 2021