Neue Feststellungen zum Blutmai 1929

Das Urteil im Heidrichprozeß – von Rechtsanwalt Dr. Hans Litten

Am 26. November 1931 wurde der Jungarbeiter Heidrich, der am 7. November 1930 den früheren Polizeipräsidenten Zörgiebel (heute Polizeipräsident in Dortmund) im Gerichtssaal geohrfeigt und Arbeitermörder genannt hatte, wegen Körperverletzung und Beleidigung zu vier Monaten Gefängnis verurteilt. Die Vorgeschichte ist bekannt: Das Schöffengericht hatte auf fünf Monate Gefängnis erkannt, die Berufungsstrafkammer schickte die vom Verteidiger zur Führung des Wahrheitsbeweises für das Wort „Arbeitermörder“ unmittelbar geladenen Zeugen unvernommen nach Hause und ermäßigte die Strafe geringfügig; das Reichsgericht hob das Urteil wegen dieser offenbaren Gesetzwidrigkeit auf, so daß die Strafkammer sich nochmals mit dem Fall zu beschäftigen hatte.

Der Wahrheitsbeweis wurde diesmal – zum ersten Mal seit zweieinhalb Jahren – zugelassen, und es wurden etwa 50 Zeugen vernommen und ein Film über die Maiereignisse vorgeführt. Die mündliche Urteilsbegründung enthält folgende für die Berliner Schutzpolizei vernichtenden Feststellungen: „Am 1. Mai 1929 und an den folgenden Tagen sind an allen Stellen der Stadt Berlin von Polizeibeamten zahlreiche Exzesse, rechtswidrige Körperverletzungen und rechtswidrige Tötungen begangen worden. Dies beweist, daß es in der Berliner Schutzpolizei zahlreiche Elemente gab, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen waren und nicht in die Schutzpolizei hineingehören. Einen Teil der Schuld trägt auch der Umstand, daß zahlreiche Beamte ausgesprochen kommunistenfeindlich eingestellt waren.“

Die Verantwortung für diese Vorgänge bürdet die Strafkammer nur den „unmittelbar beteiligten Beamten und Offizieren“ auf. Eine Verantwortung des Zeugen Zörgiebel könne auch aus dem massenweisen Auftreten solcher Exzesse – die Strafkammer hat einige hundert Fälle teils als erwiesen angesehen, teils als wahr unterstellt – nicht gefolgert werden. „Ob der Zeuge Zörgiebel nach Bekanntwerden einzelner Fälle das Erforderliche getan hat, um Wiederholungen zu verhindern, konnte nicht aufgeklärt werden, da das Preußische Staatsministerium ihm und den Zeugen Grzesinski und Heimannsberg die Aussagegenehmigung über Vorgänge, die amtlich zu ihrer Kenntnis gelangt sind, nicht erteilt hat.“

Hier gibt das Gericht also indirekt zu, daß nur die Vertuschung durch das Preußische Staatsministerium die volle Aufklärung der Verantwortung Zörgiebels verhindert hat. Das Gericht übersieht aber, daß gerade die Tatsache der Aussageverweigerung den zwingenden Beweis für Zörgiebels Schuld erbringt. Nach § 54 der Strafprozeßordnung darf nämlich die Aussagegenehmigung nur versagt werden, „wenn die Ablegung des Zeugnisses dem Wohle des Reichs oder eines deutschen Landes Nachteile bereiten würde“. Nun war die Aussagegenehmigung nur für zwei Fragen verlangt worden, nämlich,

1. ob er für den 1. Mai 1929 Anweisungen über den Schußwaffengebrauch gegeben habe, die gegen die Richtlinien des Innenministers verstießen,

2. ob ihm zahlreiche Verstöße gegen die Richtlinien des Innenministers über den Schußwaffengebrauch bekannt geworden seien und ob er diese stillschweigend geduldet, ausdrücklich gebilligt und nach Bekanntwerden einzelner Fälle nichts getan habe, um Wiederholungen zu verhindern.

Es ist klar: Wenn Zörgiebel beide Fragen unter Eid mit „Nein“ beantworten konnte, so ist nicht einzusehen, wieso durch eine solche Antwort das Wohl eines deutschen Landes gefährdet werden sollte. Wenn das Staatsministerium dennoch die Aussagegenehmigung versagte, so beweist dies, daß Zörgiebel beide Fragen nur mit „Ja“ hätte beantworten können.

Das Gericht spricht auch von der Möglichkeit einer Mitschuld der Kommunistischen Partei. Es stellt zwar ausdrücklich fest, daß die KPD. Zusammenstöße mit der Polizei nicht wollte und alles getan hat, um sie zu verhindern. Es stellt auch fest, daß kein Fall erwiesen ist, in dem die Polizei von Demonstranten angegriffen wurde.

Trotzdem glaubt es feststellen zu müssen, daß die Möglichkeit solcher Vorkommnisse nicht ausgeschlossen war, nachdem einmal entgegen dem Verbot demonstriert wurde. Dazu ist zu sagen: Keiner der zahlreichen Zeugen, nicht einmal die Berichterstatter der polizeifreundlichen Hetzblätter „Nachtausgabe“ und „Tempo“ haben irgendeinen Angriff des Publikums auf die Polizei beobachtet. Weiter ist festgestellt – auch das hat das Gericht ausdrücklich zugegeben –, daß in den drei Fällen, in denen nach polizeilichem Zugeständnis am Vormittag des 1. Mai 1929 geschossen worden ist, ein Angriff auf die Polizei nicht vorangegangen war. Noch am 7. Mai 1929 hatte Zörgiebel bekanntlich in der sozialdemokratischen Funktionärversammlung behauptet, vor 8 Uhr abends sei nicht geschossen worden. Am 13. Mai gab der Innenminister Grzesinski im Landtag zu, daß die Polizei bereits am Vormittag an drei Stellen – Hackescher Markt, Kliems Festsäle, Senefelder Platz – geschossen habe, weil sie von Kommunisten „überfallen“ worden sei, und am 20. Mai wiederholte der Polizeioberst Heimannsberg diese Behauptung in der Zeitschrift „Die Polizei“. Eigenartigerweise fehlt in seiner Darstellung der Fall Senefelder Platz, den der Minister bereits eine Woche früher erwähnt hatte. Meine Frage, wann der Artikel geschrieben sei, beantwortete Heimannsberg nicht, weil sie unter sein Amtsgeheimnis falle! In allen drei Fällen aber hat die Beweisaufnahme ergeben, daß diese Darstellungen hoher Polizeifunktionäre unwahr sind.

Es steht durch eidliche Zeugenaussagen fest, daß am Hackeschen Markt ohne Warnung in einen ruhig anmarschierenden Demonstrationszug geschossen worden ist.

Es steht durch eidliche Zeugenaussagen fest, daß die Teilnehmer der Rohrlegerversammlung in Kliems Festsälen beim Verlassen des Gebäudes ohne jede Veranlassung durch die Polizei in den Saal zurückgeprügelt wurden und daß in den vollen Saal scharf geschossen wurde. (Diese Aussage einer Zeugin schien dem Vorsitzenden so ungeheuerlich, daß er sich eine Viertelstunde lang bemühte, von der Zeugin zu hören, ob sie sich nicht geirrt haben könnte. Auf meinen Antrag wurden zu diesem Punkt vier weitere Zeugen nachgeladen, die in einer auch für das Gericht überzeugenden Weise den Vorfall ebenso schilderten.)

Und im Falle Senefelder Platz, dem Fall, der Herrn Heimannsberg so unangenehm war, daß er ihn eine Woche nach der Rede des Ministers noch nicht kannte oder schon wieder vergessen hatte, liegt ein rechtskräftiges Gerichtsurteil vor, in dem gesagt wird, daß der Polizeihauptwachtmeister Zenkert, der dort geschossen hat, ohne jede Veranlassung die Schußwaffe gebrauchte und einem Arbeiter einen Schuß in den Hals jagte. (Es handelt sich um denselben Zenkert, der in diesem Jahre bei einem Straßentumult erschossen wurde. Der Verdacht liegt nahe, daß er wiederum von der Schußwaffe unberechtigten Gebrauch gemacht hat und in Notwehr getötet worden ist. Das hindert das Polizeipräsidium nicht, obwohl der Fall völlig ungeklärt ist, in großen Säulenanschlägen zu behaupten, Zenkert sei „ermordet“ worden.) Also: Kein Zeuge bekundet einen Angriff auf Polizeibeamte, und die drei Fälle, in denen die Polizei solche Angriffe behauptet, werden als Unwahrheit erwiesen. Es ist wirklich ein geradezu übermenschliches Entgegenkommen an die Polizei, wenn das Gericht trotzdem noch die Möglichkeit solcher Fälle offenläßt.

Wenn ich auch der Meinung bin, daß das Gericht die persönliche Verantwortlichkeit des Herrn Zörgiebel zu Unrecht verneint hat, so bleibt doch die viel interessantere Feststellung über die Polizei als Ganzes. Man muß sich einmal klarmachen: Anläßlich der Maivorgänge ist – abgesehen von dem Hauptmann Grau, der von Neukölln nach Hanau versetzt wurde, und einigen gemaßregelten Beamten des Polizeireviers 82 – niemand aus der Berliner Schutzpolizei entlassen worden. Das gilt insbesondere von denen, denen nach der Feststellung des Urteils rechtswidrige Tötungen (nicht bloß „Tätlichkeiten“, wie der ehrenwerte „Vorwärts“ schamlos-schamhaft fälscht) zur Last fallen, denn in allen diesen Fällen hat die Polizei erklärt, die Täter nicht ermitteln zu können.

Also: Die „Elemente“, die das Landgericht in der Schutzpolizei nicht zu sehen wünscht, befinden sich noch heute in ihr. Noch heute umfasst die Berliner Polizei „Elemente“, denen ein rechtskräftiges Gerichtsurteil Exzesse, rechtswidrige Tötungen und rechtswidrige Körperverletzungen zur Last legt. (rechtswidrige Tötung: d. h. auf deutsch Mord; d. R.) Bei der Massenhaftigkeit der Fälle, die das Gericht als erwiesen angesehen hat, kann auch nicht von Ausnahmen gesprochen werden, sondern es steht nach diesem Gerichtsurteil fest, daß die Berliner Schutzpolizei mit Personen, die solche Verbrechen begangen haben, förmlich durchsetzt ist. Eine Feststellung, die man sich für künftige Prozesse wird merken müssen.

Von dem Polizeipräsidenten aber erwarten wir, daß er gegen die Mitglieder der dritten großen Strafkammer des Landgerichts I Strafantrag wegen übler Nachrede stellt.

Quelle: Tribunal vom 15. Dezember 1931, 7. Jahrgang Nr. 23, S. 5

 

Schlagwörter